Gedichte.eu Impressum    

Gedichte, Lyrik, Poesie

Gedichte
162 Bücher



Adelbert von Chamisso
Gedichte . 1836



Der neue Ahasverus

Hegst im Herzen du die Stunden
Uns'rer Kindheit noch, die Träume,
All' mein Lieben, all' mein Hoffen?
Siehst du wandeln uns verbunden
Durch des Paradieses Räume,
Und die Zukunft vor uns offen,
Sternbeglänzt und ungemessen,
Wie des Aethers reines Blau?
Nein, sie haben das vergessen,
        Gnäd'ge Frau.

Ja vergessen! und es sollen
Die französisch wohlgestellten
Worte für Erinn'rung gelten!
Mitleid also und Erbarmen
Schenken gnädig sie dem Armen,
Dessen Thränen sie entrollen
Sehen, ohne nur zu wissen,
Welch' ein Dämon ihn bethört.
O du hast mein Herz zerrissen
        Unerhört!

Hab' in altem Buch' gelesen
Eine wundersame Sage,
Wer der ew'ge Jud' gewesen.
Nicht kann Ahasverus sterben,
Sterben nicht, noch Ruh' erwerben,
Bis der Herr am jüngsten Tage
Ruft die Todten aus dem Grabe,
Und auch er vernimmt das Wort;
Und er wankt am Wanderstabe
        Fort und fort.

Fürder durch der Erde Weiten
Rastlos, müden Fußes wallt er,
Läßt die Weltgeschicke fluthen.
Menschenalter ihm Minuten,
Und Minuten Menschenalter,
Stehen still vor ihm die Zeiten,
Bleibt in ihm sein Herz, das alte,
Drin der alte Schmerz gebannt,
Lastend über ihm die kalte
        Schicksalshand.

Aber stets nach hundert Jahren
Treibt's nach Salem ihn zu wandern,
Von der Heimath zu erfahren.
Römer, Sarazenen, Franken
Wechselten, verdrängt von Andern,
Tempel und Altäre sanken,
Mauern und Palläste brachen,
Flüsse wandten ihren Lauf,
Neue Götter, neue Sprachen
        Stiegen auf.

Düster sinnt der Fremdgeword'ne
Ueber unbekannten Trümmern,
Daß im Geist er's wieder ordne;
Und er fragt, und fragt vergebens,
Keiner will um ihn sich kümmern,
Auf dem Grabe seines Lebens
Steht versteint der Sohn der Schmerzen,
Ueber ihn hin braust der Sturm,
Und in seinem alten Herzen
        Nagt der Wurm.

Ich bin Ahasderus, sag' ich!
Sieh' darauf mich an verwundert,
Salem du, wovor mir grauet.
Irrens müd', das Haar ergrauet,
Wank' ich heim nach aber hundert
Jahren und vergebens frag' ich,
Ruf' ich - in den öden Mauern
Weck' ich keinen Wiederhall; -
Sieh' Versteinten mich betrauern
        Salems Fall.


  Adelbert von Chamisso . 1781 - 1838






Gedicht: Der neue Ahasverus

Expressionisten
Dichter abc


Chamisso
Gedichte

Intern
Fehler melden!

Internet
Literatur und Kultur
Autorenseiten
Internet





Partnerlinks: Internet


Gedichte.eu - copyright © 2008 - 2009, camo & pfeiffer

Der neue Ahasverus, Adelbert von Chamisso