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Der Aufbruch des Herzens
162 Bücher



Karl Stamm
Der Aufbruch des Herzens . 1. Auflage 1919



V

Gekreuzigter, zeuge für mich,
denn meine letzte Stunde ist da,
niemand höret mich,
und meine Seele ist in Not.
Worte der Güte lehrte mich meine Mutter,
ich habe die Menschen geliebt, die mir Gutes getan,
ich habe ein Weib begehrt, es zu besitzen,
meines Hauses habe ich mich gefreut,
in Arbeit sanken meine Tage dahin.
Nicht immer wollte mir das Glück. Es lag ein Schatten
irgendwo, der täglich finstrer sich auf meine Schultern legte.
Da fuhr ein ungeheures Wort durchs Land.
Ein Feind erstand. Ich glaubte an den Feind!
Ich hatt' ein Vaterland. Ich tat wie mir befohlen.
Ich schwur den Eid in deines Vaters Namen.
Ich war ergriffen, ich marschierte,
Musik beschwingte meinen Fuß, groß standen Abende
am Horizont. Die Seele ahnte Wunder naher Morgen
Da schritt der Feind heran, wir schritten ihm entgegen.
Und wieder tat ich, wie man mir befohlen:
Ich tötete. - Und wehrte mich meines Lebens.
wir schrieen alle, Freund und Feind,
wir schrieen in deines Vaters Namen,
wir überbrüllten uns und unsere Not.
Das war mein Feind, wie ich voll Haß und Tod,
das war der Böse, den ich treffen mußte,
um dessetwillen ich mich opfern wollte,
das der Verfluchte, der mir gegenüberstand ...
Ich war nicht mehr ich selbst, ich war wie er nur Sprung,
dann weiß ich nicht mehr, was ich tat, ich war aus mir versperrt
und fühlte plötzlich, daß ein Unerhörtes sich begab:
In diesem Feindesantlitz schrie ein andrer, schrie
mir entgegen, meinem andern Ich: Besinne dich!
Es war nicht dies, nicht Bitte, Klage, war viel mehr als Not,
nenn aller Worte Worte, und du nennst es nicht
ich weiß nur, daß ich fürchterlich zerriß,
in ungeheuren Donnern stürzte jedes hergebrachte Recht -
Nenn es Erkenntnis, Wahrheit, Wesenheit, was ich erfuhr:
Ich sah! O ich empfing! Ich stand in Klarheit
unendlich aufgetan von mir zu ihm....
Schon wollte meine tieferlöste Seele heißes Danklied stimmen -
da schluckte Finsternis das Licht aus meinem Auge.
Und niederheulten alle Nachtgewölbe, alles war wieder da,
ertränkte mich in einem Meere von Erkennung:
Mord! Mord!
In meines Feindes Antlitz starrt es eingekratzt.
Ich stürzte mich auf ihn, ich preßte ihn an meine Brust: Erwach! -
Er blieb der stumme Schrei,
darin ich Tag und Nacht mich betten muß.
Wo flieh ich hin vor ihm? Wo flieh ich hin vor mir?
O schweige doch!
Ich blute, Bruder, blute!
Verlaß mich doch, auf daß ich sterben kann!

Zeuge für mich, Gekreuzigter!
Meine letzte Stunde ist da.


  Karl Stamm . 1890 - 1919






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