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Ernst Stadler 
 
Der
Aufbruch . 1. Auflage 1914 
 
 
 
Abendschluß 
Die Uhren schlagen sieben.    Nun gehen überall in der Stadt die Geschäfte aus. 
Aus  schon   um dunkelten   Hausfluren,   durch enge Winkelhöfe aus protzigen Hallen  drängen sich die Verkäuferinnen heraus. 
Noch  ein   wenig   blind  und  wie  betäubt  vom  langen  Eingeschlossensein 
Treten sie, leise erregt, in die wollüstige Helle und die sanfte Offenheit des Sommerabends ein. 
Griesgrämige Straßenzüge leuchten auf und schlagen mit einem Male helleren Takt, 
Alle Trottoirs sind eng mit bunten Blusen und Mädchengelächter vollgepackt. 
Wie ein See, durch den das starke Treiben eines jungen Flusses wühlt, 
Ist die ganze Stadt von Jugend und Heimkehr überspült. 
Zwischen die gleichgiltigen Gesichter der Vorübergehenden ist ein vielfältiges Schicksal gestellt - 
Die Erregung jungen Lebens,  vom  Feuer  dieser Abendstunde überhellt, 
In deren Süße alles Dunkle sich verklärt und alles Schwere schmilzt, als war es leicht und frei, 
Und als warte nicht schon, durch wenig Stunden getrennt, das triste Einerlei 
Der täglichen Frohn - als warte nicht Heimkehr, Gewinkel schmutziger Vorstadthäuser, zwischen nackte Mietskasernen gekeilt, 
Karges Mahl, Beklommenheit der Familienstube und die enge Nachtkammer, mit den kleinen Geschwistern geteilt, 
Und kurzer Schlaf, den schon die erste Frühe aus dem Goldland der Träume hetzt - 
All  das  ist  jetzt  ganz  weit -  von  Abend  zugedeckt - und doch  schon da, und wartend wie  ein  böses Tier,  das sich zur Beute niedersetzt, 
Und selbst die Glücklichsten, die leicht mit  schlankem  Schritt 
Am Arm des Liebsten tänzeln, tragen in der Einsamkeit  der Augen einen fernen Schatten mit. 
Und manchmal, wenn von ungefähr der Blick der Mädchen im Gespräch zu Boden fällt, 
Geschieht es, daß ein Schreckgesicht mit höhnischer Grimasse ihrer Fröhlichkeit den Weg verstellt. 
Dann schmiegen sie sich enger, und die Hand erzittert, die den Arm des Freundes greift, 
Als stände schon  das Alter hinter ihnen, das ihr Leben dem Verlöschen in der Dunkelheit entgegenschleift.
 
 
 
 
Ernst
Stadler . 1883 - 1914 
 
 
  
 
 
 
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