Gedichte.eu Impressum    

Gedichte, Lyrik, Poesie

Extramundana
162 Bücher



Carl Spitteler
Extramundana . 2. Auflage 1905



Mythus

Wanderten im wüsten Feld drei Wandrer,
Krank und matt vom gränzenlosen Wege,
Schleppend schleiften sie die langen Stöcke
Und die Kleider waren weiß vom Staube.
Sprach der Jüngste zu den beiden Andern:
"Liebe Brüder theure Leidgenossen!
"Was bezweckt die ewge Schmerzenswallfahrt?
"Da wir nun das tausendste Jahrtausend
"Wandern durch die schrankenlosen Felder
"Und noch immer wie am ersten Tage
"Gähnt die Wüste glatt und unabsehbar!
"Nimmer finden wir die traute Heimath;
"Lieber mag ich mit ergebnem Willen
"Auf der Straße sterben und verderben
"Als mit immerfort getäuschter Hoffnung
"Täglich unnütz dulden neue Qualen."
Ihm entgegneten die Andern Beiden:
"Schöpfe Muth und Kraft Geliebter Bruder!
"Immer täuscht uns nicht die süße Hoffnung!
"Werden endlich finden unsre Heimath,
"Wo wir, sitzend an lebendgen Brunnen,
"Ueberdacht von grünen schattgen Bäumen
"Heilen werden von der langen Reise
"Und mit selgem überlegnem Lächeln
"Uns erinnern der vergangnen Mühsal.
"Aber wolle nicht dahinten bleiben
"In der weiten führerlosen Wüste,
"Daß dir nicht von fauler feiger Ruhe
"Deine Glieder rosten und erstarren
"Und der mörderische Weltensamum
"Unterm gelben Sande dich begrabe."
Doch er folgte nicht den weisen Worten,
Schleuderte den Stock verzweifelt von sich
Warf sich selber alsodann zu Boden
Und entbot den Brüdern dieses Grüßen:
"Glück und Heil zum Gruße liebe Brüder
"Möcht' ihr Gnade finden und Erlösung!
"Aber laßt mich nunmehr hier verderben.
"Sollt euch keineswegs um mich bekümmern,
"Bis vielleicht ihr findet unsre Heimath.
"Wenn ihr dann gefunden unsre Heimath,
"Möge mir der Eine von Euch Beiden
"Statt des Ehrenlohns und Siegespreises
"Aus dem heimathlichen selgen Garten
"Bringen ein bescheidnes grünes Blättchen,
"Daß ich weinend Eure Freude theile."

Ungern ließen ihn die beiden Andern,
Standen um ihn her mit heftgem Mahnen,
Mußten dennoch weichen seinem Trotze;
Und nach langem jammervollem Abschied
Zogen klagend sie fürbaß die Straße.

Und es sprachen Beide zueinander:
"Einen Eidschwur schwöre, lieber Bruder,
"Einen heilgen fürchterlichen Eidschwur,
"Daß du nie von meiner Seite weichest!
"Lieber wollt ich gleichfalls hier verderben,
"Als verwaist mit schambedeckten Wangen
"Treten vor den strengen stolzen Vater
"Und ertragen unsrer Mutter Antlitz,
"Wenn sie kummervollen, ernsten Blickes
"Fragen nach den hinterlassenen Brüdern."

Und sie schwuren einen Eidschwur Beide,
Lösten dann den Gürtel von den Hüften,
Knoteten denselben fest zusammen
Und verknüpften ihre müden Leiber.
Also wallten sie vereint von dannen.
Und sie reisten nach der heilgen Heimath
Viele tausend lange Weltenjahre;
Glatt und eben dehnte sich die Wüste
Unabsehbar wie am ersten Tage.
Kamen gleichwohl endlich nach dem Ziele
Und erschauten die ersehnte Heimath.
Als sie sahn des Daches rothen Giebel,
Blickten sie einander stumm ins Antlitz,
Unbeweglich eine lange Stunde.
Als sie sahn die grünen Fensterläden
Warfen sie sich schreiend auf den Boden
Und zerküßten die geweihte Erde.

Aber als sie kamen zu dem Gitter
Und zum Lindengange auf dem Hügel
Auf den Knieen rutschten sie von statten,
Lauten Danks lobpreisend die Gesteine,
Welche sie zerstießen und zerschnitten,
Daß das schwarze Blut ihr Kleid befleckte.
Sieh was fliegt vom Hof des Wegs entgegen?
Sind es Sperber, sinds drei stolze Falken?
Wilden Fluges stürmen sie hernieder
Und es gellt ihr jauchzender Triumphschrei.
Sind nicht Sperber, sind nicht stolze Falken,
Sind der Wandrer angelobte Bräute,
Eilen zu empfangen ihren Brautmann
Jähe Freude brachte sie von Sinnen.

Als sie kamen in des Weges Mitte,
Plötzlich stockte da der frohe Brautlauf,
Angewurzelt standen sie am Boden; -
- Und die Vorderste begann zu wanken,
Gleich dem Reh vom Todespfeil getroffen,
Schleppte sich zur Seite nach den Linden
Und das Antlitz deckend mit der Schürze
Brach sie nieder auf den weichen Rasen.
Während alsobald die beiden Andern
Vorwärts stürzten mit erneutem Jubel
Und mit ihren weichen duftgen Armen
Hingen Jede an des Liebsten Halse.

Nahte jetzt vom Hof der alte Freiherr
Golden schien vor Seligkeit sein Auge
Und sein Antlitz netzten Freudenthränen.
Als er kaum vernahm die jüngste Jungfrau,
Wie sie schluchzt' und trauerte am Wege,
Rauft er sich das weiche, weiße Haupthaar
Und erhob die Hände nach dem Himmel:
"Dank' und Segen" rief er "gütges Schicksal!
"Drei der Söhne waren mir gestorben!
"Daß ich Einen möchte wiederschauen,
"Hatt' ich mir ersehnt zur höchsten Gnade.
"Und nun hast du, großgesinntes Schicksal
"Doppelt mir gewährt, warum ich flehte."

Also betend sprach er zu der Jungfrau:
"Hebe dich von hinnen, meine Tochter,
"Fliehend nach der hohen Mägdekammer!
"Daß du nicht mit deinem vielen Schluchzen
"Mir beschimpfest meiner Kinder Ankunft."

Und die Jungfrau flüchtete von dannen,
Daß sie schluchze in der Mägdekammer.
Doch der Freiherr grüßte seine Söhne
Zitternden Umarmens, langen Kusses
Fragend nicht nach dem verlornen Bruder,
Fragend nur in ihrem theuren Antlitz.
Darauf stiegen sie zum trauten Hause,
Wo das Hausgesinde vor der Pforte
Sich die Hände wischte an den Schürzen
Herzlich grüßend ihre junge Herrschaft.
Sprachen da die Brüder mit Verwundrung:
"Vater, mein geliebter alter Vater,
"Siehe, ächt und wahr und herzbeglückend
"Hat die traute Heimath uns empfangen,
"Jedem Wandrer blühe solch ein Festtag!
"Haben uns empfangen unsre Bräute
"Und du selber sammt dem Hausgesinde;
"Aber wo verbleibt die eigne Mutter
"Daß sie einzig uns den Gruß nicht gönne?"

Und es ging der Freiherr sie zu suchen,
Langen Suchens in dem ganzen Hause,
Von dem Hause sucht' er in dem Garten,
Von dem Garten in dem Speisevorrath
Aber nirgends fand er die Gesuchte,
Wie er auch verlange ihren Namen;
Bis er endlich unverhofft durch Zufall
Sie entdeckt' am letzten Rand des Ackers
Sitzend auf der harten bloßen Erde
Und den Rücken kehrend nach dem Hause.
Und er trat ihr unvermerkt zur Seite,
Legte seinen Arm um ihre Hüfte,
Und ergreifend ihre feinen Hände,
Die ihr leblos lagen auf dem Schooße,
Hub er schmeicheld an mit weicher Stimme:
"Treue Gattin, meine Leidgefährtin!
"Sieh, was weilst du also fremd und einsam,
"Sitzend an des Ackers äußerm Ende,
"Während auf dem Hofe vor dem Hause
"Deiner wartet Heil und Seelenwollust?
"Sind gekommen unsre beiden Söhne,
"Die Vermißten, ewig Todtgeglaubten
"So der Aeltste als der Zweitgeborne;
"Warten schmerzlich sehnend deines Grußes."

Ihm erwiederte die stolze Freifrau:
- Schroff und tonlos klangen ihre Worte:
"Laß mich weilen, laß mich einsam sitzen.
"Fremde sind mirs, die zum Hof gekommen.
"Kenne keine einzgen beiden Kinder,
"Keinen Aeltsten oder Zweitgebornen:
"Drei und eins sind meine eignen Kinder.
"Darum mag die Fremden ich nicht grüßen,
"Nicht sie irgend schauen oder hören.
"Einsam bleib' ich hier an dieser Stelle,
"Wartend auf der harten bloßen Erde
"Meiner eignen, ächten Kinder Ankunft. -

Da begann der alte schöne Freiherr
Traurig weinend unter sanftem Vorwurf:
"Höre meine Stimme, theure Gattin!
"Wehre deinem allzuvielen Schmerze
"Und begnüge dich mit deinem Schicksal:
"Denn der allzuviele Schmerz macht grausam!
"Weil du einen einzigen verloren,
"Wirst du nicht zugleich die Andern Beiden
"Fühllos von dir stoßen und verläugnen.
"Sind ja deine Kinder gleich wie Jener,
"Gut und rein von Herzen und Gesinnung,
"Daß sie keine Sünde je berührte."

Leidenschaftlich rief darauf die Freifrau:
"Laß mich einsam, heiß mich nicht sie schauen!
"Nicht genügt mir dieses geizge Schicksal!
"Und mit Recht und Wahrheit heiß ich fühllos;
"Kann nicht fühlen die gesunden Glieder
"Fühle einzig meine schwere Wunde,
"Welche unerträglichen Empfindens
"Immer in mir brennt und schreit und schneidet,
"Daß ich jedes Fühlen überfühle."

Jetzt mit äußerstem Versuche bat er:
"Also was entbiet ich deinen Söhnen,
"Ihnen zum Bescheid aus deinem Munde?"

Und mit dünnen Lippen sprach sie mühsam:
"Dieses magst du melden zum Bescheide:
"Will sie nimmer schauen oder grüßen,
"Ehe meinen Jüngsten ich gefunden,
"Selbst ihn suchend in der öden Wüste,
"Ob ich ihn vielleicht vom Sand errette
"Und ihn führe zur gelobten Heimath."
Lauten Jammers nahm er ihre Worte
Und berichtete die strenge Botschaft. -

Und die Brüder standen bleich und schweigend,
Ließen schmachvoll ihre Köpfe hangen,
Fragten endlich leiser schwacher Stimme:
"Lieber Vater, höre unsre Bitte,
"Gehe nochmals zu der strengen Herrin
"Daß du diese Worte von uns sprechest:
""Gruß und Segen, vielgeliebte Mutter!
""Gruß und Segen von den treuen Söhnen!
""Mögest du vom schweren Leid genesen,
""Auch begnadigen die Tiefbetrübten
""Deine Kinder, die im wüsten Lande,
""Wenn vor Qual und Not die Glieder wankten
""Und vor Herzeleid der Mut erlahmte,
""Oefters sich mit deinem Bild ermahnten,
""Malend dein Gesicht in unsern Reden
""Und verleiblichend die süße Stimme.
""Aber wolle nun zu Hause bleiben
""Pflegend deinen Kummer, und mit Trostspruch
""Wartend unsers Vaters sammt den Bräuten,
""Während wir zum Zeichen unsrer Reue
""Ziehen nochmals nach der ewgen Wüste,
""Nimmer wiederkehrend, sei es anders
""Daß wir den Verlornen dir ersetzen.""

Eilends ging der alte schöne Freiherr,
Gern gehorchend dem willkommnen Auftrag,
Kam darauf zurück mit dieser Antwort:
"Also ist der Herrin letztes Urteil:
"Selber will sie ziehen nach der Wüste;
"Kein verständges Bitten kann sie halten.
"Weil jedoch ihr endlichen Erbarmens
"Euch erinnert des verlornen Bruders,
"Mag sie willig dulden eure Führung
"Ob ihr sie vielleicht zum Grab geleitet,
"Immer hundert Schritte vor ihr ziehend,
"Schwörend einen fürchterlichen Eidschwur,
"Daß ihr niemals wollet rückwärts schauen,
"Wenn ihr dann gekommen zu dem Grabmal
"Will sie euch begrüßen und umarmen."

Dankend nahmens auf die beiden Brüder
Sich verneigend mit bescheidner Ehrfurcht:
"Wohl! geheiligt sei der Mutter Wille."
Holten dann aus ihrer Kemenate
Eingedenk des brüderlichen Wunsches
Einen feinen, schöngeschnitzten Prachtschrein,
Daß sie rüsteten die trauten Gaben,
Wie man rüstet Kinderspielgeschenke,
Den verlaßnen Bruder zu erquicken;
Wählten drum mit liebevoller Auswahl
Proben aller heimathlichen Dinge:
Brachen Blätter von den vielen Bäumen,
Sammelten den Saamen aus den Blumen
Und vergaßen nicht die heilge Erde.
Als das Kästchen schon beinah erfüllt war,
Sprach der ältre Bruder zu dem Andern:
"Siehe leer von Leben ist die Wüste,
"Leer auch über ihr das Luftgewölbe,
"Oftmals flehten wir mit heißer Inbrunst,
"Daß wir möchten schauen in den Lüften
"Etwas sich bewegen und sich regen."
Also sprechend schritt er nach dem Hofe,
Und zum Schwalbenneste bei der Scheune
Und erwählte zwei getupfte Eilein. -
Und es rief der Jüngre mit Erstaunen:
"Siehe Alles haben wir erwogen,
"Weislich, mit gekünstelten Gedanken,
"Doch das Nächste haben wir vergessen."
Also sprechend schritt er nach dem Brunnen
Schöpfte von dem kalten, frischen Strahle
Wen'ge Tröpflein in ein köstlich Näpfchen
Und bewahrt es bei den andern Dingen.
Ueber diesem schlossen sie das Kästchen,
Schickten auch zugleich nach ihrer Mutter
Sie ermahnend zu der weiten Reise.
Jetzt erscholl im heimathlichen Schlosse
Ein gewaltges Jammern und ein Klagen.
Weinend stand bereit das Hausgesinde
Und der Freiherr selbst, am Lindenhage,
Wimmerte und rief gebrochner Stimme:
"Weh und Unglück, meine lieben Kinder!
"Wärt ihr besser nimmermehr erschienen!
"Da mein Herz, getäuscht von falschem Schimmer
"Sich gewöhnt an Euren holden Anblick
"Und nach kurzem trügerischem Glücke
"Ich zum andern Mal Euch muß verlieren.
"Mit Euch auch zugleich die theure Gattin
"Meines Lebens Trost und höchsten Inhalt."

Und es schlossen sich die beiden Bräute
Engen Ringes um des Liebsten Schulter,
Lispelten mit ungezählten Küssen
Und mit reichem Ueberfluß der Thränen
Unbelauschte heimliche Gespräche
Und beschenkten sie mit Angedenken,
Bis sie endlich mit Verrätherblicken
Ihnen einen goldnen Knäuel gaben,
Winzig, in der hohlen Hand zu fassen,
Und mit Weibesarglist sie belehrten:
"Denke Liebster, deiner Anverlobten!
"Denke nicht allein des todten Bruders,
"Der mit Liebe reichlich schon beschenkt ist,
"Da für ihn sich Alles grämt und opfert,
"Während Niemand unsres Kummers achtet,
"Nicht des Meinen und auch nicht des Deinen
"Gleich als wären wir aus schlechtem Stoffe.
"Aber mögen Alle dich nicht schätzen
"Mir doch bleibst du werth, mein Heißgeliebter
"Edlen unschätzbaren Goldeswerthes
"Wie kein andrer Werth besteht im Weltall.
"Bist mein Alles ja, geliebter Jüngling,
"So mein Trost als meine einzge Hoffnung.
"Wüßt' ich, daß du niemals wiederkämest
"Würd ich noch in dieser selben Stunde
"Mich begraben in dem kühlen Bache. -
"Drum bewahre, Trauter, diesen Knäuel,
"Unzerreißbar ist der goldne Faden.
"Weil du wandelst in der weiten Wüste,
"Laß den Faden unvermerkt entgleiten,
"Langsam schreitend; während ich indessen,
"Sitzend in der hohen Mägdekammer
"Tag und Nacht das andre Ende spinne."
Kam darauf vom Hof die stolze Freifrau.
Blindlings kam sie, schaute nicht zur Seite.
Nicht berührte sie das viele Weinen
Nicht des Ehgemahles Schmerzensstöhnen.
Schritt hinunter nach der ew'gen Wüste
Wie zum Haus man schreitet oder Garten.
Schon beim Gitter war sie angekommen,
Sieh da lief herbei die jüngste Jungfrau
Angethan im schwarzen Trauerkleide
Und zur Reise fertig und gerüstet,
Rang die Hände über ihrem Haupte
Und begehrte nach dem fernen Festmann.

Doch die Freifrau lachte ihrer Klagen,
Höhnte sie und spottete mit Ingrimm:
"Weiches Schätzlein, du mein sammtnes Mägdlein!
"Steig hinauf in die bequeme Kammer,
"Daß du, auf dem wulstgen Polster liegend
"Und liebäugelnd vor dem hohen Spiegel,
"Dir die schönen Seiden-Locken kämmest
"Und den weißen Leib mit Salben ölest,
"Und die Sommersprossen ängstlich beizest.
"Dies ist Bräutesorg und Bräuteliebe.
"Aber misch dich nicht in ächtes Unglück
"Denn das Unglück ist der Mütter Vorrecht."

Schrie die Magd und rief gewaltgen Zornes:
"Helft mir, liebe Brüder! helft mir Armen!
"Der mit Unrecht Spott und Schimpf zu Theil wird.
"Darf mir Niemand meinen Brautmann rauben,
"Den ich mit getreuer Liebesinbrunst
"Mir erworben zum Besitz und Vorrecht."

Also folgte muthig sie dem Zuge,
Rüstig schreitend auf der Mutter Spuren.
Schritt mit todesmuthigem Entsagen,
Immer jammernd um den todten Festmann,
Bis am Himmel schien die Mittagssonne
Und die Heimath glänzt' in weiter Ferne.
Jetzt begann sie unter leisem Aechzen:
"Gott wirds lohnen meine treue Mutter
"Gott wirds lohnen, hilf mir armen Waise!
"Halte still ein einzges kleines Weilchen
"Daß ich sammle Kraft zu neuer Arbeit!
"Schmerzlich brennt vom Wüstensand mein Auge
"Und mein Athem stockt vor schwerer Hitze."

Dennoch folgte sie getreu dem Zuge,
Bis die Sonne sank zum Horizonte
Und vom trauten heimathlichen Hause
War allein zu sehen noch das Dachwerk.

Jetzt begann sie unter lautem Stöhnen:
"Meine treue Mutter Gott wirds lohnen!
"Gieb mir Gnade nur ein kleinstes Stündchen,
"Daß durchaus ich etwas mich erhole!
"Denn mein Leib ist matt und krank vor Hunger
"Und die Füße wund vom langen Wandel."

Dennoch folgte schleppend sie dem Zuge.
Aber als nunmehr der letzte Giebel
Einzig noch ein wenig war zu schauen
Fiel sie jetzt zu ihrer Mutter Füßen
Und begann mit flehendlichem Weinen:

"Mögest nicht verdammen deine Tochter
"Noch verachten ungerechten Urtheils!
"Denn mein Herz ist ewig unauflöslich
"Ganz und gar ergeben meinem Brautmann.
"Ihm gehör ich, keines Andern denk ich.
"Aber nicht gehorchen mehr die Glieder:
"Ruhen muß ich oder muß verderben.
"Nimmer würd' ich doch das Ziel erreichen,
"Würd Euch eitel hemmen und belasten.
"Darum Herrin, höre meine Bitte,
"Wenn du bist gekommen zu dem Liebsten,
"Gieb ihm dieses Bild und diese Locke,
"Sag' ihm, daß ich immer sein gedenke!"

Höhnte da die Mutter mit Verachtung:
"Seidenköpfchen! du mein sammtnes Beinchen!
"Bin kein Kuppler, bin kein Liebesbote!
"Wähle für den buhlerischen Auftrag
"Dir ein zierlich Täubchen oder Schäfchen
"Oder einen schöngeputzten Knaben
"Krausen Locken-Haupts und lieblich duftend.
"Aber achte meinen Gram und Kummer,
"Mich verschonend mit den frechen Scherzen
"Und verhaltend dein verliebtes Heucheln."

Also sprechend stieß sie sie von hinnen
Nahm sodann die Schuhe von den Füßen
Und vom Haupt das Kopftuch und den Schleier,
Warf es Alles spottend ihr entgegen.
Baarfuß wanderte sie fort und baarhaupt.
Weil die Jungfrau unter bittren Thränen
Schlich beschämt und traurig nach der Heimath.

Und es wanderten die drei Gesandten
Still und schweigend durch die sandge Wüste,
Vorn die beiden Brüder, langsam schreitend
Immerfort bedenkend ihren Heimweg
Und den Faden wickelnd von dem Knäuel,
Aber hinter ihnen ihre Mutter
Hundert Schritt im Abstand. Wohl vernahm sie,
Wie der goldne Faden schleift' im Sande,
Wohl vernahm sie's und verbiß die Lippen.
Und sie reisten nach dem fernen Grabe
Viele hunderttausend Weltenjahre
Aber immer dehnte sich die Wüste,
Weit und glatt und leer von allem Leben,
Unabsehbar wie am ersten Tage.

Bis an einem unverhofften Morgen
Sich ein Berg erhob vom Horizonte
Hoch und spitz gebaut aus weichem Sandstein.
Aus des Berges Gipfel dampften Wolken
Gleich wie wenn ein lebend Wesen athmet,
Und ein Seufzen drang aus seinen Tiefen
Wie im bangen Herzen seufzt die Seele.
Als die Brüder kaum den Berg erblickten
Und vernahmen das bedrängte Seufzen
Stille standen sie und ruhten schweigend,
Drehten sich zurück nach ihrer Mutter,
Sie erwartend mit gesenktem Antlitz.

Und die Freiin kam mit wanken Schritten.
Schwerer ward ihr dieser kurze Wandel
Als die Wüstenfahrt durch tausend Jahre.
Wie sie nun gekommen zu den Söhnen
Schlang sie ihre Arme um die Beiden
Und begann nach langem stillen Schluchzen:
"Herzlos seid ihr, meine lieben Kinder
"Herzlos seid ihr, seid doch meine Kinder.
"Müßt mir meine Grausamkeit verzeihen,
"Wie man stets verzeiht den Tiefbetrübten!
"Weiß es selbst ja, daß ich Unrecht habe!
"Handeltet, wie Jeder handeln würde,
"Da gewiß ihr euren lieben Bruder
"Ungern und gezwungen nur verließet
"Einzig weichend seinem eignen Willen.
"Dieß nur mach ich euch vielleicht zum Vorwurf
"Daß ihr meiner damals nicht gedachtet;
"Hättet ihr gedacht der armen Mutter
"Hättet ihr entgegen seinem Sträuben
"Ihn mit überlegner Kraft bewältigt
"Und ihn fortgetragen auf den Schultern.
"Wenig lastet ein geliebter Körper.
"Hätt euch reichlich einst die Müh entschädigt
"So mit seines Daseins trauter Nähe
"Als mit seiner süßen Stimme Danken,
"Und wir wohnten auf der schönen Heimath
"Alle jetzt vereint in ewgem Glücke.
"Aber zieht hinüber nun zum Grabe,
"Aufwärts steigend nach des Berges Gipfel
"Zu begrüßen euren armen Bruder.
"Tröstet ihn mit liebevollen Worten
"Und befraget ihn um seinen Willen.
"Sollt doch nicht verrathen meine Ankunft.
"Wenn er kennen würde meine Ankunft
"Würd er leiden mit verschärften Leiden
"Leiden erstens mit den eignen Leiden
"Leidend mehr noch für die kranke Mutter.
"Falls vielleicht er sich nach mir erkundigt,
"Saget: Trauernd steht sie unterm Gitter
"Sieht herüber nach dem fernen Kinde
"Viele Thränen weint sie sich zur Heilung.
"Aber falls er meine Nähe wittert,
"Sprecht: Es ist die anverlobte Jungfrau,
"Die zum Trotz der führerlosen Wüste
"Und dem weiten qualenvollen Wege
"Kam zu beten über ihrem Brautmann.
"Freuen wirds ihn und ihn herzlich trösten."

Heiße Thränen weinten da die Beiden,
Dankten ihr und küßten ihr die Hände,
Zogen dann hinüber nach dem Berge.

Als sie kamen zu des Berges Füßen
Horch! da murmelt' es im tiefen Grabe
Murmelte und sprach mit süßem Klagen:
"Tag des Heils und unverhofften Schicksals!
"Dieß ist Heimathluft und Heimathodem!
"Und das Weinen ist der Brüder Weinen,
"Die mit treuer redlicher Gesinnung
"Des verlassnen Bruders sich erinnern."

Als sie kamen zu des Berges Mitte,
Wieder sprach die Stimme aus der Höhle:
"Zwei getrennte Athem unterscheid' ich
"Zwei besondre Herzen meiner Brüder.
"Aber in der Ferne, welch ein Jammern
"Welch ein kläglich Schreien hör' ich zittern,
"Zittern durch den stillen sandgen Boden,
"Zittern auch durch meine tiefe Seele?
"Von dem großen Herzen, das da leidet,
"Strömt zu mir ein breiter Strom der Liebe,
"Warm umhauchen mich die sanften Fluten,
"Aus den Wellen steigt ein farbig Leben."

Als sie kamen zu des Berges Gipfel,
Wo die Wolken qualmten aus dem Schlunde,
Beugten sie die Köpfe nach dem Krater
Und begannen unter starkem Rufen:
"Kannst du, Bruder, unsre Stimme hören
"Und die Worte fassen und verstehen?
"Sieh wir kommen von der trauten Heimath,
"Bringen dir ein Kästchen mit Geschenken
"Bringen auch zugleich ein Herz der Buße,
"Reuevollen, bitteren Bewußtseins
"Wie wir schnöd im Sande dich verließen."

Rief der Bruder aus dem tiefen Grabe:
"Liebe Brüder, meine lieben Brüder,
"Habet Dank für eure frommen Gaben
"Habet Dank auch für die ächte Freundschaft.
"Sollt euch keineswegs mit Reue strafen
"Mein ist alle Schuld mit allem Unglück.
"Weiß es wohl und hab es nie vergessen,
"Habs mir oft auch bitter vorgehalten,
"Wie ihr langen treugesinnten Scheltens
"Rauh die Stimme von dem vielen Bitten
"Mich ermahntet mit verständger Warnung.
"Aber nun vor allem, liebe Brüder,
"Hebet an von unsrer selgen Heimath,
"Alles einzeln und genau erzählend
"Von dem rothen Dach auf grünem Hügel,
"Von dem Gitter bei dem Lindengange,
"Von den Eltern, von der schönen Jungfrau. -"

Und sie sprachen eine lange Stunde
Alles einzeln und genau beschreibend
Von dem Gitter bis zum rothen Dache,
Von den Eltern bis zur schönen Jungfrau.

Während also sie die Heimath malten
Stille blieb es in der tiefen Höhle
Und die Wolke überm Berg versiegte.
Aber als sie sprachen von den Eltern
Unterbrach sie rasch des Bruders Frage:
"Und wie tröstet sich die arme Mutter
"Und wie trägt sie ihres Kindes Unglück?"

Schreiend warfen sie sich auf ihr Antlitz,
Schluchzten eine lange Stund im Sande,
Bis sie endlich mit gebrochner Stimme,
Weil die Thränen flossen in den Abgrund,
Huben an und gaben ihm zur Antwort:
"Bei den Linden steht sie unterm Thore
"Blickt herüber nach dem fernen Knaben
"Sich zur Heilung weint sie milde Thränen."

Wieder rief vom Grab herauf der Bruder:
"Denkt auch meiner noch die schöne Jungfrau?
"Und wer liegt dort drüben in der Wüste?
"Wohl vernehm ich durch den sandgen Boden
"Das gewaltge Beten und das Singen."
Heftig weinend gaben sie die Antwort:
"'S ist vom Schloß die anverlobte Jungfrau.
"Ungeacht der führerlosen Wüste
"Und dem heißen qualenvollen Wege
"Ist sie kommen zu dem trauten Brautmann."

Großen Seufzers schwieg der kranke Bruder;
Hub dann an und sprach mit weicher Stimme:
"Habet Dank, ihr guten lieben Brüder!
"Laßt euch nicht gereuen die Erzählung
"Habt mein Herz erquickt und weich gebadet,
"Nimmer hofft' ich einen solchen Festtag;
"Aber jetzt zum herrlichen Beschlusse
"Gönnet mir die traulichen Geschenke.
"Einzeln laßt sie durch den Abgrund fallen
"Daß besonders ich daran mich freue."

Gern gehorchten sie des Bruders Bitte,
Holten aus dem Kästchen die Geschenke,
Warfen sie gesondert in den Crater.
Und der Bruder in dem tiefen Schlunde
Grüßte einzeln jede holde Gabe,
Dichtend aus der weichen Sehnsuchtseele.

Als die Wassertröpflein sie ihm schenkten,
Sprach er zu den Tröpflein dieses Grüßen:
"Dieses ist der Bach am Gartenhause
"Wohl vernehm ich das geliebte Plätschern,
"Wasserjungfern tanzen um die Sträucher
"Und ein Brücklein führt zum andern Ufer.
"Denkt ihr, liebe Brüder, noch der Zeiten,
"Da wir aufgestülpten, kurzen Kleidchens
"Wateten und stampften durch die Wellen?"

Als er annahm die Syringenblume
Dieses Grüßen bot er der Syringe:
"Steht ein Busch im dunklen Gartenwalde,
"Mächtig duftend in der warmen Mainacht,
"Schmetterlinge schwärmen um die Blüthen
"Und die Sterne blinken durch die Tannen.
"Und ich sprach zu der geliebten Jungfrau,
"Küßte sie und faßte ihre Hände:
""Siehe, wie aus hehrem Himmelsauge
""Blickt die keusche Nacht auf uns hernieder
""Also lieb ich dich, geliebte Jungfrau,
""Rein und heilig mit geweihter Andacht;
""Kein Gedanke wohnt in meiner Seele,
""Den ich nicht dir frei bekennen dürfte.""

Doch den Fichtensamen grüßt er also:
"Duft der Kindheit, Traum der fernsten Jahre!
"Welche Bilder führst du mir vor Augen!
"Wenn im Wolkenfeld die Lerchen jubeln
"Zieht mein Vater nach dem Sonnenwalde,
"Weißen Haars auf stolzem weißen Pferde,
"Zottge Hunde springen ihm zu Füßen
"Und ich sitz' ihm reitends vor dem Sattel.
"Also reiten wir zum Sonnenwalde,
"Wo von Beil und Axt die Stämme dröhnen."

Als er aber sah die Schwalbeneier
Uebermannt' ihn eine große Wehmuth;
Lange konnt er keine Worte finden
Bis er endlich rief und sang mit Schluchzen:
"Seh's vor mir, als wär' es heut geschehen:
"In die Scheune ging ich mich verbergen
"Um zu weinen ungehemmte Thränen
"Unbelauschte heiße Abschiedsthränen.
"Auf dem Heustock in der Tenne lag ich
"Durch die Luken schien der blaue Himmel
"Und die Schwalben jagten sich mit Schreien.
"Kam die Mutter still hereingeschlichen,
"Fragte nicht und sprach kein leises Wörtchen,
"Auch kein Thränchen netzt' ihr schönes Antlitz
"Sah mir unverwandten Blicks ins Auge.
"Immer steht der Blick vor meiner Seele,
"Nie im Leben schaut' ich solch ein Blicken,
"Mich umfing es wie mit hundert Armen
"Und mein tiefstes eigenstes Bewußtsein
"Schlürft und sog es mir aus meinem Herzen. -
"- Weiß jetzt, was das Blicken wollte sagen:
""Keiner wird den Andern wiedersehen.""

Als vom Löwenzahn ein Samenstäubchen
Sie zuletzt ihm schenkten durch den Abgrund
Bitter reut' ihn da das luftge Stäubchen
Und er rief und sprach mit lautem Vorwurf:
"Goldne Sonnen in den grünen Wiesen,
"Bienchen wiegen sich auf euren Strahlen:
"Herrlich glänzt und leuchtet euer Antlitz
"Aber Euer Herz ist herb und giftig.
"Ihr allein seid Schuld an meinem Unglück.
"Wenn als Kind ich spielte bei dem Bache
"Schautet ihr herab vom hohen Raine
"Und mit Eurer Traumesbilderstimme
"Sangt ihr mir von einer schönren Heimath
"Ueberm wüsten Feld in ewger Ferne.
"Sangt und sangt und dichtetet und maltet
"Bis ihr mir das junge Herz verführtet.
"Hab' nun eine andre Heimath funden
"Unterm sandgen Berg im stillen Grabe."

Ueber diesem sprachen dann die Brüder:
"Lieber Bruder müssen nunmehr scheiden
"Also gönn' uns deinen letzten Willen
"Was du immer nur von uns begehrest,
"Daß wirs thun und daß wir es bestellen."

Antwort gab vom tiefen Grab der Bruder:
"Liebe Brüder, ewig Dank und Segen,
"Eine Hochzeit habt ihr mir bescheeret
"Um ein kleines grünes Blättchen bat ich
"Und ihr brachtet einen reichen Garten;
"Wollt ihr noch ein übriges gewähren
"Wohl so mögt ihr dieses mir bestellen:
"Grüßet mir die trauten armen Eltern
"So mit Küssen als mit sanften Worten,
"Saget ihnen daß ich ihrer denke
"Stund für Stund in schrankenloser Liebe.
"Saget auch zugleich, ich litte wenig
"Daß sie meinetwegen sich nicht grämen.
"Und der angelobten Jungfrau meldet:
""Stolz und freudig' hab ich es erfahren
""Wie du ungeacht der weiten Wüste
""Und der heißen, schattenlosen Straße
""Bist gekommen über mir zu beten.
""Hast mich schön geehrt mit diesem Opfer
""Und dich selber hoch damit geadelt.
""Fahre nunmehr fort um mich zu trauern
""Unbegränzter, stets verjüngter Trauer
""Jedem zum Beweise meines Werthes
""Selber dir zur geistigen Erhebung,
""Daß du mitten in der fernen Heimath
""Wandelst eine Königin der Keuschheit
""Heilig und unnahbar und geachtet
""Um die Stirn das Diadem der Leiden.
""Sollst doch nicht zum Bergesgipfel steigen
""Mich zu grüßen mit Geschrei und Jammern
""Peinlich wär mir's und ich miß es gerne.
""Schöner stehst du mir im Angedenken
""Wie du ähnlich einer hohen Göttin
""Ueberlegen jeder lauten Klage
""Ueberlegen auch dem Trost der Thränen
""Trägst dein heilges gnadenschweres Leiden
""Ganz und voll zurück in deine Heimath.
"Dieses möget ihr für mich bestellen.
"Aber selber meine lieben Brüder
"Stellt euch Beide vor des Schlundes Oeffnung
"Dicht gedrängt gleich einem einzgen Wesen,
"Ziehet auch den Mantel von der Schulter
"Und erhebt ihn hochgestreckten Armes,
"Daß der große Schatten mich erreiche
"Und ich schaue meiner lieben Brüder
"Eignes trautes körperliches Dasein. -
"Wenn ihr dann gestiegen nach dem Thale
"Gehet suchen in dem todten Sande
"Wo im Feld am stillsten ist ein Plätzchen.
"Kniet daselbst und legt das Haupt zur Erde
"Betend, daß ein gnadenvolles Sterben
"Mich enthebe meinen schweren Leiden.
"Ueber diesem reist getrost und muthig!
"Möge Gott Euch segnen liebe Brüder!"

Und so stellten sich die beiden Brüder
Einer an den Andern vor die Oeffnung
Nahmen auch den Mantel von den Schultern
Und erhoben ihn mit ihren Armen.
Stiegen dann hinunter nach dem Thale
Und verkündeten der treuen Mutter
Alles einzeln wie es sich begeben,
Gingen auch zu knieen in der Wüste
Wo sie flehten um den Tod des Bruders.
Doch die Freifrau als sie sah die Söhne
Wie sie mit der Stirn die Erde schlugen
Und die Hände gruben in den Busen,
Ahnte sie den Inhalt ihrer Bitte
Und mit leidenschaftlichen Gebärden
Angst und Zorn auf ihrem schönen Antlitz
Hub sie an ein sonderbares Beten
Nicht mit Demuth, nicht mit brünstgem Flehen
Wild und drohend klangen ihre Reden. -
- Also schrie sie zu dem fernen Schicksal:
"Blinder Richter! unvernünftges Schicksal!
"Ist es nicht genug der schnöden Unthat,
"Daß du meinen unschuldsvollen Knaben
"Hast begraben lassen unterm Sande?
"Hüte dich vor meinem Zorn, ich rath' dirs!
"Daß du nicht erhörest die Gebete
"Weder seiner selbst noch seiner Brüder.
"Nicht verstehen sie warum sie flehen,
"Haben auch kein Recht zu seinem Tode;
"Mir zum Eigenthum gehört der Knabe,
"Ich allein darf über ihn verfügen,
"Die ich streng und heilig dir befehle:
"Laß ihn leiden, wenn es also sein muß,
"Laß ihn leiden, aber laß ihn leben."

Also schwangen sich die drei Gebete
Widerstrebend vor das Haus des Schicksals,
Drangen auch durch zwei verschiedne Thüren
Trotz dem Zorngeschrei der vielen Diener
Mitten in des Schicksals eignes Zimmer,
Wo sie lag auf ihrem Krankenbette
Unbeweglich mit gelähmten Gliedern
Und die Augen blind vor großer Schwachheit.
Zwei Gebete flehten bei der Schwelle
Knieend mit bescheidenen Gebärden,
Doch das dritte zog mit kühnem Willen
Fest und sicher nach dem Krankenlager
Schob daselbst die Pflegerin zur Seite,
Und die linke Faust ins Kissen stemmend,
Sagt' es den befehlerischen Auftrag.
Bleich vor Schrecken wimmerte das Schicksal,
Ließ sich dann die Tafel überreichen
Und den schwachen Schreibefinger führen.
Drohend prüfte das Gebet die Arbeit.
Also schrieb das angsterfüllte Schicksal
Zitternd mit den gichtgelähmten Fingern:
"Zwei Gebete sind zu mir gekommen
"Zu erflehen ihres Bruders Sterben,
"Doch das Dritte heischt ein ewges Dasein.
"Also soll der Bruder ewig leben,
"Ewig leben unter ewgem Sterben."
Hieß sodann die einzelnen Gebete
Jegliches die Tafel unterschreiben,
Und die Diener auf den Wink des Schicksals
Führten die Gebete auf den Altan,
Wo sie mit den scharfen Geisteraugen
Schauten durch den ungeheuren Luftraum
Auf die buntgemalten Weltendinge.
Sahen auch die gelbe Wüstenfläche
Und den Hügel mit den Athemwolken.

Und es sprachen jetzt des Schicksals Diener:
"Liebe Männer wetzet Geist und Sinne,
"Daß ihr jegliches genau vernehmet,
"Müßts bezeugen und auch unterschreiben."

Und sie wetzten eilig Geist und Sinne
Immer blickend nach dem Grabeshügel.
Sieh da ward gehört ein Sterbesseufzen
Und ein Schluchzen und ein banges Aechzen
Und die Wolke schwankte hin- und herwärts,
Heftig sich bewegend und sich drehend.
Bis nach einer Zeit sie sanft und ruhig
Sich zurückzog in die Grabeshöhle,
Mit ihr auch zugleich der Bergesgipfel
Weichen Sturzes durch den sandgen Krater.

Jubelnd nahmens wahr die zwei Gebete,
Unterschrieben gerne das Ereigniß,
Doch das dritte mit erregten Mienen
Blickte immer finster nach dem Grabe,
Bis nach kurzer Zeit der ganze Hügel
Von den Füßen bis zum flachen Scheitel
War umhüllt mit einem feinen Hauche.
Ueber diesem schrieb er auch das Zeugniß.

Aber unten in der heißen Wüste
Standen schweigend jetzt die drei Verwandten.
Bis zuletzt mit männlichem Entschlusse
Sprach die Freiin zu den beiden Söhnen:
"Also ist vollbracht die heilge Arbeit.
"Darum kehret nun zurück zur Heimath,
"Daß ihr tröstet euren alten Vater
"Und am Halse eurer schönen Bräute
"Euch entschädiget für Eure Mühen;
"Habt es wohl verdient und hart erworben.
"Denkt auch dann und wann der fernen Mutter
"Aber nie vergeßt den armen Bruder!"

Mit Entsetzen schrieen auf die Söhne,
Schrieen auf und fielen ihr zu Füßen:
"Hab Erbarmen meine liebe Mutter'
"Sollen wir zum andern Mal als Waisen
"Still und traurig kehren nach der Heimath,
"Neuen unersetzlichen Verlustes,
"Schimpf und Schande tragend auf den Wangen
"Auf den Lippen laute Jammerklagen? -
"Welches wird auch sein des Vaters Grüßen
Wenn wir dich verließen in der Wüste?
"Fluchen wird er uns mit heilgem Fluche;
"Keine Rede wird uns irgend helfen.
"Darum höre, Herrin, unsre Bitte:
"Laß vereint uns kehren nach der Heimath
"Oder heiß uns bleiben, dir zur Seite."

Ruhig gab zurück die strenge Freiin,
Schmeichelte und sprach mit weicher Stimme:
"Laßt es gut sein meine lieben Kinder
"Nicht geziemts Euch, hier bei mir zu bleiben
"Und mit Beten und mit ewgem Härmen
"Zu vertrauern Eure süße Jugend.
"Euch verlangen Eure holden Bräute;
"Aengstlich spinnen sie den goldnen Faden,
"Und das Glück auch hat auf Euch ein Anrecht;
"Darum thuet wie ich Euch befohlen.
"Nehmt auch diesen Ring von mir zur Bürgschaft,
"Daß ihr, wenn ihr vor den Vater tretet,
"Sprecht, ich sei gestorben. Wirds Euch glauben,
"Weil ich einstmals schwur mit heilgem Schwure
"Nie von diesem Ringe mich zu trennen
"Sei es anders mit dem eignen Tode.
"Wahrheit schwur ich und auch ihr sagt Wahrheit:
"Bin gestorben in dem eignen Wesen,
"Einzig wesend in dem armen Kinde,
"Was ich selber bin, ist Schmerz statt Leben."

Ueber diesem küßte sie die Söhne
Reichlich mit verschwenderischen Küssen,
Stieß sie aber endlich rasch von hinnen,
Ungeduldig wartend auf der Stelle
Bis nach langer Zeit und vielem Zaudern
Sie verschwunden hinterm gelben Sande,
Wo die Freiin alsdann plötzlich aufsprang
Und mit leisen, heftigen Gebärden,
Auf den Zehen nach dem Hügel eilend
Lauschte scharfen Ohres an der Bergwand.
Als sie dann vernahm ein dumpfes Brausen
Und ein Schmerzenswimmern und ein Stöhnen
Gellend tönte da ihr wildes Jauchzen
Und das Antlitz nach der Wüste kehrend,
Die gespreizten Händ' und Arme schüttelnd
Höhnte sie und rief gewaltger Stimme:
"Nun wohlan du feiger schlechter Mörder
"Samum, Weltenkönig, her zur Stelle!
"Sammle allen Sand der ganzen Wüste,
"Daß damit das Grabmal du verschüttest!
"Werde dennoch mir den Sohn befreien,
"Werd' ihn mir befreien, schwör dirs heilig!"

Riefs und sprachs, entblößte dann die Arme
Und mit leidenschaftlichem Beginnen
Hub sie nunmehr an im Sand zu graben
Wie der Dachshund gräbt im Bau des Fuchses.

Doch am Horizont der Weltenkönig,
Unbeweglich lauernd unterm Sande,
Als er hörte das gewaltge Jubeln
Sprang er jähen Sprunges auf die Füße,
Und, die Finger durch die Lippen steckend,
Pfiff er heulend seinem Zauberrosse;
Welches eilends kam dahergelaufen,
Aber nicht wie andre Rosse laufen
Auf der Erde springend mit den Füßen,
Sondern gleich wie von des Zimmers Decke
Fliegen oder Spinnen abwärts hangen,
Also lief es hastig unterm Himmel,
Stieg am steilen Horizont hernieder
Und erbot gehorsam seinen Rücken.
Hurtig schwang sich auf der Weltenkönig
Und die Flanken mit den Waden schlagend
Klettert er hinan den Himmelsbogen,
Wo er jetzt mit Schnauben und mit Schnaufen,
Umgekehrt, den Kopf zur Erde hangend
Und den Mantel überm Sande fegend
Stürmte durch die schrankenlose Wüste,
Welche Waffe schwingt er in den Händen?
Ists ein Degen, ists ein Eisenhammer
Oder ist es eine schwere Keule?
Ist kein Degen, ist kein Eisenhammer,
Ist auch keine steingewichtge Keule,
Eine Schaufel ists mit hohler Pfanne
Um den Sand zu streun in alle Winde.

Als dem Berg er nahe war gekommen
Hielt er plötzlich ein in seinem Laufe
Und, sich auf den Bauch des Pferdes schwingend
Späht' er unbeweglich nach dem Feinde,
Ein gewaltger fürchterlicher Anblick,
Schwarz das Pferd und schwarz sein eignes Antlitz
Schwarz der riesenungethüme Schatten,
Doch der rothe Mantel, schweren Falles
Stehend auf der tiefen gelben Erde.
Kaum erblickt er jetzt die arme Mutter
Wie sie siegesjauchzend grub am Grabe,
That er lächelnd seine Waffe von sich,
Sich begnügend, daß er mit Verachtung,
Abwärts gleitend nach des Pferdes Rücken
Faßte eine Handvoll gelben Sandes
Den er leichthin schickte nach dem Grabmal.
Stäubend floh der Sand aus seinen Fingern
Streift', ein böser Same, überm Boden,
Und verstärkt von Tausenden von Brüdern,
Welche spielend ihm die Hände reichten
Fiel er, eine weiche sanfte Welle
Säuselnd nieder auf den Fuß des Berges
Einesmals vernichtend was die Freiin
Hatt' erreicht mit banger Schmerzensarbeit.

Also wars mit einem jeden Tage
Immer grub die Freiin in dem Berge
Immer neckte sie der Weltenkönig
Und nicht kleiner ward darob das Grabmal,
Größer wards in täglicher Vermehrung.
Dennoch ließ sie nicht von ihrer Arbeit,
Wahnsinn hielt ihr armes Herz umschlungen,
Daß sie bei dem hoffnungslosen Werke
Immer jubelte mit Siegesjauchzen.

Aber auf des Berges flachem Scheitel,
Welch' ein Wunder zeigt sich meinen Augen?
Kriecht ein Gräschen aus der nackten Erde
Und ein Blättchen wächst an seiner Seite
Aus dem Gräschen wird ein zweites Gräschen
Aus dem Blättchen eine zarte Krone
Und es keimt und sproßt und blüht und duftet
Bis am Gipfel grünt ein Wald und Garten.
Sind die trauten heimathlichen Gaben,
Die die Brüder warfen durch den Krater,
Edler Dünger hat sie schön befruchtet:
Liebesthränen haben sie befruchtet.

Und zwei Schwalben fliegen aus dem Garten
Schwirren um den runden Berg und girren.
Girrt die eine Schwalbe zur Gefährtin
"Liebe Schwester meine liebe Schwalbe,
"Sieh mir träumt' ein wundersames Träumen,
"Das im buntgesprenkten Ei ich träumte:
"Eine Scheune sah ich unterm Giebel
"Einen Hof und einen klaren Brunnen
"Sah mich selbst in einem warmen Neste
"Schön bedient von Hunderten von Schwestern.
"Darum laß uns suchen jene Scheuer
"Schwerlich hat der holde Traum gelogen."

Und sie flogen nach der fernen Scheuer
Viele hundert lange Weltenjahre
Schwimmend mit den krummgeschwungnen Armen;
Weißlich glitzernd unterm Sonnenstrahle.
Kamen endlich nach dem trauten Hofe
Wo die Schwestern saßen auf der Scheuer.
Sprachen da die Schwestern von der Scheuer:
"Liebe Schwestern meine lieben Schwalben
"Warum ist so düster Eure Kleidung?
"Blau und schwarz sind alle Eure Kleider,
"Daß man kaum gewahrt ein weißes Brüstlein.

Antwort gaben da die beiden Schwestern:
"Sind geboren aus dem Weltengrabe
"Unterm sandgen Hügel in der Wüste.
"Als wir dem gesprickten Ei entschlüpften
"Sah auf uns des jungen Freiherrn Auge;
"Darum ist so düster unsre Kleidung."

Wieder fragten jene von der Scheuer:
"Liebe Schwestern unsre lieben Schwalben
"Warum klingt so heiser euer Singen?
"Siehe Eure Stimmen schrein und kreischen,
"Daß wir Eure Rede kaum verstehen."

Da erwiederten die beiden Schwestern:
"Als wir schlüpften durch die Schwalbeneier
"Hörten wir die Freifrau schrein und kreischen
"Habens abgelernt und nachgesungen."

Und sie wohnten auf der trauten Scheuer
Einge Tage herrlich und in Freuden
Saßen auf gemalten Eichenstäben
Und verspeisten wohlgemäste Käfer.
Aber als der achte Morgen anbrach
Da begann die Eine zu der Andern:

"Liebe Schwester, meine liebe Schwalbe,
"Herrlich ohne Frag' ist unser Dasein,
"Nichts gebricht uns, was wir immer wünschen,
"Sitzen auf gemalten Eichenstäben
"Und verspeisen wohlgemäste Käfer.
"Aber dennoch meine liebe Schwalbe
"Ist die Seele mir beschwert und traurig
"Möchte wiedersehn das Weltengrabmal
"Und das Seufzen hören und das Schreien."

Eine alte Schwalbe saß im Winkel
Sterbend ob dem allzulangen Leben.
Als sie hörte die verständge Rede
Schleppte sie sich mühsam aus der Ecke
Und begann mit Wehmuth und mit Weinen:
"Liebe Kinder, meine lieben Schwalben
"Wahrheit ist es, was ihr da gesprochen
"Herzlich freut mich die verständge Rede.
"Nicht im Wohlbefinden ruht die Heimath
"Nicht im Sitzen auf gemalten Stäben
"Noch im Schlucken von gemästen Käfern.
"Wo zum ersten Male durch die Augen
"Hat geathmet unser Selbstbewußtsein
"Und die Seele mit erschrecktem Staunen
"Hat erkannt ein riesengroßes Weltsein
"Da ist unsre Heimath, diese Dinge
"Bleiben in den Tiefen unsrer Seele;
"Fest und innig mit uns selbst verwachsen,
"Daß sie nichts vermag von uns zu scheiden;
"Selber sind wir alle jene Dinge.
"Hab es selber einst an mir erfahren:
"War auch einmal jung und schön wie ihr seid
"Und von dieser Scheuer, wo ihr sitzet,
"Flog ich nach der ältern schönern Heimath
"Wo der Freiherr herstammt und die Freifrau
"Ehe sie mit frachtbeladnen Wagen
"Kamen hergezogen durch die Wüste
"Zu erbauen diesen Hof und Garten.
"Sah dort viele wunderbare Dinge
"Wie kein Traum sie schöner möchte malen:
"Gleich dem Wasserstrahl im lautern Brunnen
"Also waren weiß daselbst die Schwalben
"Und sie saßen über Silberstäben
"Und verspeisten goldbestäubte Käfer.
"Mochte doch nicht lange dort verweilen
"Hatte weder Ruh noch Rast noch Frieden
"Bis ich endlich herwärs wiederkehrte. -
"- Darum liebe Kinder, liebe Schwalben
"Säumet länger nicht mit eurer Reise
"Sondern zieht je eher, desto besser
"Durch die Wüste nach dem fernen Hügel.
"Allda werdet ihr euch hold vermählen, -
"- Habt euch gern ja, seh's an euren Aeuglein. -
"Gott gewähr euch viele holde Kinder,
"Daß von frohem Girren und von Schwirren
"Sich belebe die verfluchte Wüste.
"Bis nach langer Zeit am schlimmen Tage
"Sich verirren wird ein kleines Schwälblein
"Und an einer schlimmern Schmerzenshöhle
"Gründen eine neue liebe Heimath
"Wo die Jungen vor der großen Trauer
"Werden tragen nächtlich schwarze Kleider,
"Daß man nicht gewahrt ein weißes Brüstlein."

Also sang die altersschwache Schwalbe
Zog hierauf sich rückwärts in den Winkel
Und verschied nach kurzem leichtem Zucken.

Doch die Jungen sahn sich in die Aeuglein
Zu ergründen was die Alte meinte.
Also sprachs aus einer Jeden Aeuglein:
"Hast mich gern ja, sehs an deinen Aeuglein."
Drückten dann die Mäulchen fest zusammen
Sammt den Köpfchen mit den weißen Brüstlein.
Ueberdieß beschlossen sie die Reise.
Und die Schwalben von dem Freiherrnhofe
Gaben ihnen freundlich das Geleite
Schönen Fluges bis zum grünen Gitter
Auch die jüngsten weit hinaus zur Wüste.
Selber aber mit entzückten Herzchen
Preßten sie die Brüstlein aneinander
Und in gleichgemessnen ebnen Zügen
Jedes immer an dem andern klebend
Schwammen sie hinüber nach der fernen
Schmerzensreichen heimathlichen Zukunft.
Waren glücklich, hatten viele Kinder.


  Carl Spitteler . 1845 - 1924






Gedicht: Mythus

Expressionisten
Dichter abc


Spitteler
Extramundana
Schmetterlinge

Intern
Fehler melden!

Internet
Literatur und Kultur
Autorenseiten
Internet





Partnerlinks: Internet


Gedichte.eu - copyright © 2008 - 2009, camo & pfeiffer

Mythus, Carl Spitteler