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Blätter im Wind
162 Bücher



Heinrich Seidel
Blätter im Wind . (vermutlich) 2. Auflage 1882



Spiegel oder Stiefelknecht

Poetisch- historisch- philosophische Abhandlung des
Studenten Habakuk Habenichts.


Hier steh' ich nun mit trauernden Gedanken,
Betrachtend stumm die Trümmer meiner Habe.
Von allen Dingen, die zum Orkus sanken,
Blieb mir nur treu die Pfeife, meine Labe,
Ein Spiegel und ein Stiefelknecht - ohn' Wanken.
Hier steh ich nun an meines Glückes Grabe,
Und plage mich mit Grübeln höchst beschwerlich:
Was von den Drei'n am meisten sei entbehrlich.

Die Pfeife? Nein! Gefährtin meiner Tage!
Von dir will ich die Trennung nicht erleiden!
Du hast gestillt den Jammer und die Klage,
Du hast getröstet mich zu allen Zeiten.
Ob Spiegel oder Stiefelknecht?! - Die Frage,
Die gilt es jetzt mit Weisheit zu entscheiden.
Drum spann' ich auf den Stiefelknecht die Saiten -
Auf dieser Leier will ich für ihn streiten.

Man nennt den Spiegel ein Symbol der Wahrheit,
Doch Niemand liebt die Wahrheit ja zu hören.
Was hilft's? die Welt in ihrer ew'gen Narrheit,
Sie weiß sich selber künstlich zu bethören;
Und zeigte auch in seiner vollsten Klarheit
Der Spiegel Wahrheit an - ich will's beschwören:
Ein Jeder sieht nur, was dem Nächsten fehlet,
Und nimmer Jenes, was ihn selbst entstellet.

Was nützt der Spiegel denn? Nur eitles Wesen
Erschafft er; Weiber, die der Männer Qual.
Nie hat man das vom Stiefelknecht gelesen,
Bescheid'nem Veilchen gleichet er im Thal.
Der Anspruchslose wird gar leicht vergessen,
Und ist doch bieder, standhaft, treu wie Stahl,
Ein rechter Freund in Schmerz und bittrer Pein,
Wenn uns der Schuh drückt, hilft nur er allein. -

Schneewittchen, kündet uns die Märchensage,
Ward durch den Spiegel großes Leid gegeben,
Und dreimal huben kleine Zwerge Klage,
Weil sie ob einem Spiegel ward vergeben.
Schuf je ein Stiefelknecht des Neides Plage?
Zu Demuth mahnt er, Dulden und Vergeben;
Tritt man mit Füßen ihn Tag ein, Tag aus -
Geduldig zieht er uns die Stiefel aus.

Will ich, daß mir ein Spiegel was verkündet,
Was braucht es da amalgamirte Gläser?
In jedem Bach, der sich im Thale windet,
In jedem Teich mit ruhigem Gewässer,
In meines Mädchens dunklem Auge findet
Ein Spiegel sich. Wo fände ich ihn besser?
Doch schau ich um in Wald und Feld und Flur -
Wo giebt mir einen Stiefelknecht Natur?!

Verblendung schafft, wie ich bewies - der Spiegel,
Und Eitelkeit, wie ich bewies, der Spiegel,
Und Leiden schafft, wie ich bewies, der Spiegel,
Und Haß und Neid, wie ich bewies, der Spiegel,
Und Feinde schafft, wie ich bewies, der Spiegel,
Und Zank und Streit, wie ich bewies, der Spiegel,
Und da ich auch bewies, daß er entbehrlich,
Entgeht dem Stiefelknecht die Palme schwerlich.

In seiner Form verwandt Apollos Leier,
In seinem Stoff vom starken Eichenbaume,
In seinem Nutzen allen Männern theuer,
In seinem Wesen fern dem eitlen Schaume,
In seiner Dauer schätz' ich Niemand treuer,
In seiner Demuth mit beschränktem Raume
Begnügt er sich. So viele gute Seiten,
Die müssen ja den Vorzug ihm erstreiten!

Du Stiefelknecht, des Junggesellen Stolz,
Du Stiefelknecht, du meiner Füße Labe,
Du und die Pfeife, altes Biederholz,
Bist meine beste, meine treuste Habe,
Und blinkt der Spiegel vornehm auch und stolz -
Ich bin zufrieden, wenn ich dich nur habe!
Mein Stiefelknecht! Mein Freund, seit wir uns kennen,
Wir wollen nun uns niemals - niemals trennen!


  Heinrich Seidel . 1842 - 1906






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