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Anna Ritter
Gedichte
. 1. Auflage 1898
Erinnerung
Ist dies ein Traum, der meinen Sinn umschmeichelt,
Der mit dem Mondstrahl in das Fenster kam,
Den schweren Druck von meiner Stirne nahm,
Mit Blüthenzweigen nun mein Antlitz streichelt
Und zu mir spricht in jenen altvertrauten,
In Sturm und Trübsal nie vergeßnen Lauten?
Noch einmal steigt der Frühling mir herauf,
Noch einmal an den übersonnten Wegen
Seh ich den Flieder seine Trauben regen,
Narzissen schauen leuchtend zu mir auf,
Und durch den Garten kommt ein Schritt gegangen,
Der treibt das Blut in meine jungen Wangen.
Vor lauter Sehnsucht ist das Herz mir schwer.
Mit meinen Locken spielen Morgenwinde,
Und an der Mauer wiegt die alte Linde
Breitästig ihre Blüthen hin und her.
Darunter wartet er, daß meine Seele
In langem Kuß der seinen sich vermähle.
Erinnerung, wie gingst du all die Zeit
So farblos neben mir, so altbedächtig,
Wie trittst du heute gar so übermächtig,
So frühlingsfrisch in meine Einsamkeit
Und lockst aus stillen, grün umwachsnen Tiefen
Sehnsucht und Thränen, die so lange schliefen.
Anna
Ritter . 1865 - 1921
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