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Anna Ritter
Gedichte
. 1. Auflage 1898
Der todte Dichter
Sie trugen einen Sarg hinaus,
Hing ihm kein Kranz zur Seite,
Gab Keiner ihm im schwarzen Kleid
Das trauernde Geleite.
Die Träger schritten stumpf und still,
Der Priester sprach Gebete,
Im Morgenwinde der Talar
Sich wie ein Segel blähte.
Mir griff's an Herz so wunderbar,
Mußt' hinterm Sarge schreiten,
Den Todten, den ich nie gekannt,
Zu Grabe zu geleiten.
Und wie wir wandern durch das Thor,
Auf ländlich stillen Wegen,
Kommt uns aus Feld und Wald und Au
Ein and'rer Zug entgegen.
Ein unabsehbar langer Reih'n
Fremdartiger Gestalten,
Die Kränze voller Glanz und Duft
In blassen Händen halten.
Und Alle neigen sich dem Sarg
Und singen leise Lieder,
Und legen ihren bunten Schmuck
In tiefer Andacht nieder.
Bis sich ein blühend Diadem
Um alle Pfosten windet,
Und in der lichten Frühlingspracht
Der schlichte Sarg verschwindet.
Und wie ich frag: "Wen ehrt ihr so?"
Da schaut mich das Gelichter
Mit groß erstaunten Augen an:
"Der Todte war ein Dichter."
Anna
Ritter . 1865 - 1921
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