
 162 Bücher
|
Anna Ritter
Gedichte
. 1. Auflage 1898
Das Lied der Noth
Es klingt ein Lied von Anbeginn der Zeit
Durch diese Welt in wehen Mollaccorden,
Umbraust des Himmels goldnen Kuppelsaal
Und rüttelt machtvoll an der Hölle Pforten.
Es ist das Lied, das dunkle Lied der Noth,
Der Winternacht, aus Lenzeslust geboren,
Der Schrei Ertrinkender, die Halt und Ziel
Und Ankergrund im Lebenssturm verloren.
Der Liebe Klage ist's, die irren Blicks
Hineinschaut in der Gräber dunkles Gähnen,
Die ihrer Hoffnung Kränze welken sieht
Und sie begießt mit der Verzweiflung Thränen.
Es ist der Durst nach Frieden, Glück und Lust,
Der Sehnsuchtsruf von Millionen Lippen,
Verdorrt und blühend, welk und jugendheiß,
Ein einzig Mal am Freudenkelch zu nippen.
Es ist des Elends banger Hilferuf,
Das Wahnsinnslachen von verkomm'nen Armen,
Vieltausendstimmig braust der Chor daher,
"Erbarmen" gellt es durch die Welt, "Erbarmen".
Wer hörts? Wer hilft?... Geschlechter sinken hin
Und neue kommen, die das Elend erben,
Der Tod hält graus'ge Ernte, Jahr für Jahr -
Das Elend überlebt das große Sterben!
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Es klingt ein Lied von Anbeginn der Zeit
Durch diese Welt in wehen Mollaccorden,
Umbraust des Himmels goldnen Kuppelsaal
Und rüttelt machtvoll an der Hölle Pforten.
Schuld.
Ein Frauenkleid, bestrahlt vom Feuerschein,
Ein sprühend Licht in steinbesetzten Ringen,
Und weiße Finger, die sich eng verschlingen. -
Wie lange ruhst du träumend schon allein
Vor dem Kamin und läßt verblichner Zeiten
Blutloses Bild an dir vorübergleiten?
Wie lange schon, du hingesunknes Weib,
Neigst du die Stirn in selbstvergeßnem Lauschen
Und hörst den Südwind durch die Rüstern rauschen?
Treibt er das Blut dir schneller durch den Leib,
Der heiße Wind, der im Vorüberwandern
Dir Kunde giebt von jenem Fernen, Andern,
Den du geliebt? - Was birgst du das Gesicht? -
Der dich besaß! - schwer dufteten die Rosen
Um ihn und dich - und den du doch verstoßen!
Das Fenster klirrt... ein seltsam zuckend Licht
Irrt durch den Saal... der Sturm fährt in die Flammen -
In dumpfen Stöhnen bricht das Weib zusammen.
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Erinnerung hält über sie Gericht.
Anna
Ritter . 1865 - 1921
|
|