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Anna Ritter
Gedichte
. 1. Auflage 1898
Arbeit und Sehnsucht
Arbeit, die kräftig zupackende Dirn
Mit dem offnen Blick und der freien Stirn,
Dem trotzigen Mund und den Armen voll Kraft
Hat wacker des Tages für ihn geschafft.
Nun, da es dämmert, kommt sie und lacht
Und drängt sich an ihn: "Hab ich's gut gemacht?"
Er lächelt zerstreut und horcht hinaus ...
Es flattert ein hell' Gewand um's Haus,
Es huscht übern Weg ein wiegender Schritt,
Ein girrendes Stimmchen ruft: "Kommst du mit?"
Ein weißes Gesicht ins Fenster träumt,
Das Auge von schattenden Wimpern umsäumt,
Zwei Flügel wiegen sich hin und her...
Er kämpft... er ringt... sein Athem geht schwer.
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Die Arbeit schaut ihn verächtlich an:
"Was hab ich nicht Alles für dich gethan,
Hab Blut und Schweiß vergossen um dich,
Und nun, da es Nacht wird, verräthst du mich!" -
Da kichert die Sehnsucht am Fenster sacht:
"Dein ist er am Tage und mein bei Nacht!
Was hast du mit all deinem Quälen erreicht?
Ein mühselig Stückchen des Weges vielleicht -
Ich trag' seine Seele im tändelnden Spiel
Auf Flügeln des Traumes zum seligen Ziel."
Anna
Ritter . 1865 - 1921
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