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Anna Ritter
Gedichte
. 1. Auflage 1898
Abendlieder
1.
O gehe nicht, laß nicht die Nacht mich finden,
Ein hülflos zagend und verlassen Weib!
Schon greift die Furcht mir eisig an den Busen
Und jagt mir Schauer durch den jungen Leib.
Sieh', wie die Wolken dort am Himmel jagen,
Vom Sturm gepeitscht, in lichtlos scheuer Hast -
Ahnst du die Sehnsucht nicht, die sie beflügelt,
Den tiefen Drang nach sturmlos stiller Rast?
So floh auch ich, vom Sehnsuchtssturm getrieben,
Durch dieser Jahre trostlos öde Zeit,
Da sah ich dich und wurde ahnend stille:
Du wardst die Fülle meiner Einsamkeit.
2.
O bleib bei mir! Schon will der Tag sich neigen,
Der Lärm verhallt, die Dämm'rung bricht herein,
Mir wird so bange in des Abends Schweigen,
Sieh' meine Thränen, laß mich nicht allein!
Schon netzt der Thau des Mooses grüne Matten,
Vom Flusse steigt der Nebel weiß herauf,
Es richtet sich ein kalter, schwarzer Schatten
An jedem Baum und Strauch des Weges auf.
Hörst du den Schrei des Hähers in den Föhren,
Den Schritt des Wildes, der im Buschwerk knackt?
Ich fürchte mich! Wie soll ich mich erwehren,
Wenn mich die Nacht mit ihren Schrecken packt.
Noch bist du da! Noch halt' ich deine Hände
Und suche Trost und Schutz und Ruh' bei dir,
Doch hinter uns steht drohend schon das Ende
Und grinst uns an... Geliebter, bleib bei mir!
Anna
Ritter . 1865 - 1921
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