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Anna Ritter 
 
Befreiung
. 1. Auflage 1900 
 
 
Versunknes Paradies 
Wie weht der Wind so scharf und kühl 
Von meines Vaters Garten her, 
Als wüßte er den Ort nicht mehr, 
Da unser Kinderlachen scholl, 
So sorgenlos, so frühlingsvoll! 
 
Dort oben stand die Linde einst 
Und wiegte sich im Sonnenschein. 
Nun ging sie längst zur Ruhe ein - 
Da man den Vater trug zu Grab, 
Starb auch dem Baum das Leben ab. 
 
Ein fremder Kleidsaum streift das Gras, 
Und auf dem Kiese knirscht ein Schritt, 
Der achtlos unsre Spur zertritt. 
Das Herz dort hört die Sprache nicht, 
Die jeder Strauch im Garten spricht! 
 
Ich lehne draußen an der Thür 
Und halte mit der kalten Hand 
Die rost'ge Klinke fest umspannt 
Und weine leise für mich hin, 
Daß ich im Kindheitsparadies 
So fremd, so fremd geworden bin!
 
 
 
 
Anna
Ritter . 1865 - 1921 
 
 
  
 
 
 
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