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Anna Ritter 
 
Befreiung
. 1. Auflage 1900 
 
 
Sieg der Lust 
Sie schleichen umher mit tückischen Mienen, 
Sie raffen mit dürren, blutlosen Armen 
Zweige und moderndes Laub. 
Auf nebligem Feld, auf starrenden Stoppeln 
Richten sie kichernd den ragenden Holzstoß, 
Die neidischen Tage. - 
 
Sie aber hat des wilden Werks nicht Acht ... 
Sie steht verträumt, in ihren Augen lacht 
Der Juli noch, ins blonde Haar geschmiegt 
Ein voller Kranz von Centifolien liegt, 
Und ihre Hand, von Fesseln eingehegt, 
Mit läss'gem Griff ein blühend Scepter trägt. 
So athmet sie, vom Tode schon umstellt, 
In einer schönen, sonnentrunknen Welt. 
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 
        Die Flamme schwält, 
        Die Flamme loht, 
        Es zuckt und leuchtet 
        Blutig roth, 
        In alle Ritzen 
        Kriechts hinein, 
        Am Stamme leckts 
        Mit gelbem Schein, 
        Die Zweige küßts 
        Mit heißem Hauch, 
        Zum Himmel steigts 
        Mit blauem Rauch ... 
        Die Funken sprühn - 
        Ein Gluthstrom quillt 
        Aus dem Geäst, 
        Die Lohe schwillt ... 
        Mit dumpfem Krachen 
        Stürzt ein Holz - 
        Was stehst du noch 
        So frei und stolz ...? 
 
Wehe dir, Sommerlust, lachendes Weib! 
Greift dir die Angst an den blühenden Leib, 
Spürst du der Flamme verzehrenden Hauch? 
Balde, ach, balde, packt sie dich auch. 
        Sie rüttelt voll Hohn 
        Die klirrenden Ketten, 
        Sie springt hinein 
        In den lodernden Schein, 
        Knisternde Flammen 
        Schlagen zusammen 
        Über dem strahlenden Haupt! 
        Verloren .... 
        O ihr Thoren, 
        Die ihr's glaubt! 
        Hört ihr den Sturm? 
        Das war ihr Genoß! 
        Nun kommt er herbei 
        Auf dampfendem Roß, 
        Nun sprengt er heran 
        Mit Wiehern und Schnauben, 
        Den Flammen die todte 
        Geliebte zu rauben. 
        Er bläst den Rauch 
        Von den glühenden Bränden, 
        Er sammelt die Asche 
        Mit gierigen Händen. 
        Dann schwingt er sich auf 
        Mit wildem Gelächter 
        Und streut die Atome der Lust 
        Weit über die schlafende Welt, 
        Daß hierhin und dorthin 
        Ein Stäubchen fällt, 
        Ein Keim, der sich dehnt und streckt, 
        Die Ärmchen zur Sonne reckt, 
        Und übers Jahr, wenn es mait, 
        Die andern weckt 
        Und jubelnd schreit: 
        "'s ist Frühlingszeit!"
 
 
 
 
Anna
Ritter . 1865 - 1921 
 
 
  
 
 
 
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