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Anna Ritter
Befreiung
. 1. Auflage 1900
In der Mondnacht
Ach, wer kann schlafen, wenn die Sommernacht
So wunderlieblich vor den Fenstern lacht!
Wenn auf dem First der alten Scheunen hin,
Leichtfüßig, eine blasse Gauklerin,
Das Mondlicht geht,
Wenn von der Sommerlinde
Der schwüle Blüthenduft herüberweht!
Ich raffe mich empor aus heißen Kissen,
Zum Kleide greif ich, schlüpfe in die Schuh
Und schleiche mich mit klopfendem Gewissen,
Scheu wie ein Dieb, durch das verschlafne Haus.
Die Hofthür knarrt, und auf der morschen Treppe
Bleib ich erschrocken stehn - dann lach ich still:
Es ist, weiß Gott, die eigne, lange Schleppe,
Die mich mit ihrem Rascheln schrecken will!
Wie mich die Luft so wundervoll umfängt,
Wie sich das holde, blühende Geheimniß
Der Sommernacht an meine Glieder drängt!
Und Alles sieht so ganz verwandelt aus:
Ein Silbersee liegt schimmernd auf den Fliesen,
Und aus den Schatten, die sich seltsam scharf
Daneben dehnen, seh ich Blüthen sprießen,
Aus weißem Lichte wunderlich gewoben.
Ein leuchtend Räthsel, ruht der Himmel droben,
Und tief im Garten, wo der blaue Flieder
Durchs Gitter drängt, schluchzt in die fromme Ruh
Ein Vogel seine süßen Liebeslieder.
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O du versteckte, scheue Sehnsucht du,
Ich lausche dir, und meine Hände falten
Sich fest und still,
Als wollte ich, mir selber unbewußt,
Tief in der Brust
Die Seele, die ins Weite wandern will,
Mit diesen beiden, armen Händen halten!
Anna
Ritter . 1865 - 1921
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