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Anna Ritter
Befreiung
. 1. Auflage 1900
Heimath
(Meinen Freunden, Georg und Cläre
Schwartzkopff, zu eigen.)
1.
Wie nun der Zug das stille Land durchgleitet
Und immer traulicher die Scholle winkt,
Bis sich die Heimath vor den Blicken breitet;
Wie überm Thale schon die Sonne sinkt,
Die blauen Berge in den Abend steigen,
Mein trunknes Aug' die schlichte Schönheit trinkt,
Und alle Wünsche mir in Andacht schweigen -
Ach, daß ich goldne Worte dafür fände,
Statt dieser Thräne, die im Zwielicht blinkt,
Statt dieser fest und stumm verschlungnen Hände,
Auf die sich betend meine Lippen neigen.
2.
Heimathluft, die heißen Wangen
Biet ich deinem Kusse dar!
Draußen war ich manches Jahr,
Komm voll Sehnsucht nun gegangen,
Deinen Segen zu empfangen,
Du, die meiner lichten Kindheit
Fröhliche Gespielin war!
Von den Hessenbergen nieder
Wehst du, aus dem Grund herauf,
Wo der Fulda Silberlauf
Grüßend blinkt, trägst du die Lieder
Lang versunkner Tage wieder,
Und ein Glück, ein unvergessnes,
Schlägt die blauen Augen auf.
3.
Du Erdenfleck, der du mir Heimath bist -
Wie hab ich mich freiwillig denn vertrieben
Und bin so lange, lange fern geblieben,
Da's doch so schön an deinem Herzen ist!
Heut schau ich, wie ein Kind am heilgen Christ,
Die Schätze an, die ich so lang besessen,
Die ich im Rausch des Lebens fast vergessen -
Heut weiß ich erst, wie oft ich sie vermißt!
Mir ist, als wehe reiner hier die Luft,
Als wär des Himmels wundervoller Bogen
Hier freier, leuchtender empor gezogen,
Und über Allem liegt ein feiner Duft,
Als wollte um des Tages blühend Leben
Der Thränenschleier der Erinnerung schweben.
4.
Durch die Heimath bin ich gefahren,
Immer den Fluß entlang.
Wo die Thäler am schönsten waren,
Stand meine Jugend und sang.
Trug in ihren goldenen Haaren
Ein Kränzlein grün und roth -
"Ach, liebe Jugend, was singst du so laut,
Was stehst du im Kranze, gleich einer Braut,
Und bist doch begraben und todt?"
""Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht liegen
In meinem Bettlein kalt!
Ich hörte den Zug vorüber fliegen,
Ich sah deine dunkle Gestalt,
Ich sah die Thränen auf deinen Wangen
Und deine zitternde Hand -
Da bin ich dir heimlich entgegen gegangen -
Willkommen im Hessenland!""
Anna
Ritter . 1865 - 1921
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