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Anna Ritter
Befreiung
. 1. Auflage 1900
Der graue Gast
Als du gegangen, ist ein grauer Gast
Mit Grübleraugen und verwirrtem Haar
In meines Stübchens Einsamkeit gekommen -
Der hat Besitz von deinem Stuhl genommen
Und nannte Thorheit, was so selig war!
Die Rose jener wundervollen Tage,
Die blühend noch in ihrem Glase stand,
Nahm er zur Hand,
Und, langsam ihren holden Kelch entblätternd,
Wies er den Tod mir schon im Frühling nach
Und sprach:
"Wer Glück und Rosen bricht, der ist betrogen
Er meint, er trüge Freude sich ins Haus,
Der arme Thor - die Blätter fallen aus!
Und was der Phantasie geschwätzger Mund,
Was ihm die Hoffnung lächelnd vorgelogen,
Es sinkt dahin mit der verwelkten Blüthe!
Ihm aber bohrt der Schmerz sich ins Gemüthe
Mit scharfem Dorn, und jene flüchtgen Stunden
Gestohlner Freude, die er sein genannt,
Sie hinterlassen tiefe, böse Wunden ..."
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Wie er gekommen, ist der graue Gast
Mit ernstem Gruße lautlos mir entschwunden.
Doch auf dem Teppich habe ich die Spur
Zerstörter Schönheit weinend aufgefunden:
Die todte Rose, die du mir zum Pfand
Ewiger Liebe jüngst gegeben hast.
Anna
Ritter . 1865 - 1921
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