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Anna Ritter 
 
Befreiung
. 1. Auflage 1900 
 
 
Auf dem Goetheweg zum Torfhaus 
Weit hinter mir, von Nebeln eingehüllt, 
Liegt nun der Gipfel, der auch dich empfangen! 
Dieselben Wege, die du einst gegangen, 
Befreiung suchend, fern der lauten Welt, 
Beschreit ich nun, und meinen Pfad erhellt 
Dieselbe Sonne, die dein Haupt umfangen. 
Du bist mir nah, ein still Gedenken füllt 
Das Herz mir aus: Durch dieses Waldes Schweigen 
Seh ich dich einsam, kraftvoll aufwärts steigen: 
... Tief liegt der Schnee. - Die dunklen Tannen ragen 
Wie Riesen aus dem weißen Grund herauf, 
Von fernen Höhen kommt ein seltsam Schimmern, 
Und tausend winzige Krystalle flimmern 
Im blassen Schein der Wintersonne auf. - 
Da tönt ein Schritt ... aus weiß verbrämten Bogen 
Trittst du hervor, ein dunkler Mantel wallt 
Um deines Leibes blühende Gestalt. 
Du hast den Hut tief in die Stirn gezogen, 
Als wolltest du, ganz in dich selbst versenkt, 
Von keinem Bild der Erde abgelenkt, 
Hinunter steigen in dein eigen Leben, 
Den Räthselschatz der Tiefe aufzuheben. - 
Gewölk steigt auf ... in regellosen Massen 
Schiebt sich's empor, ein fahles Dämmerlicht 
Verdrängt die Sonne ... rauhe Winde fassen 
Den zähen Tann 
Mit wilden, kampferprobten Fäusten an, 
Daß dir der Schnee in großen, weißen Flocken 
Ins Antlitz stiebt. - Du schreitest fest voran, 
Den Höhen zu, die dich verheißend locken. 
Dein Auge leuchtet, deine Sinne lauschen 
Geheimen Stimmen, die kein Ohr erfuhr, 
Im Wintersturm und in der Bäume Rauschen 
Spricht sie zu dir, die ewige Natur. 
Und was im Taumel wechselvoller Stunden 
Sich dir entwand, dir unverständlich war - 
Den Urquell deiner Kraft, der frisch und klar 
Tief in dir rinnt - 
            Du hast ihn neu gefunden. - 
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Ich wache auf. Die Morgensonne glüht 
Rings auf das Moor, die rothe Haide blüht, 
Und zögernd schreite ich auf schwanken Wegen 
Der Alltagswelt der Ebene entgegen. 
Doch über mir und meinen Schritten ruht, 
Mich still verklärend, dieser Stunde Segen, 
In blauer Luft klingt heller Vogelschrei, 
Ein Hauch von dir fliegt grüßend mir vorbei, 
Und aus der klaren, ruhevollen Fluth 
Der Lichtgedanken, die mein Herz bewegen, 
Steigts wie Gebet: 
        "... dem Geier gleich, 
        Der auf schweren Morgenwolken 
        Mit sanftem Fittig ruhend, 
        Nach Beute schaut, 
        Schwebe mein Lied ..."
 
 
 
 
Anna
Ritter . 1865 - 1921 
 
 
  
 
 
 
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