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Anna Ritter 
 
Befreiung
. 1. Auflage 1900 
 
 
Am See 
Es wird immer stiller. - Der Tag schläft ein, 
Die Boote gleiten über den See 
Wie schwarze Schwäne. Die Mondenfee 
Schreitet mit leisem, schleppendem Gang 
An den Büschen des Parks entlang 
Und streut weiße Rosen über den Weg. 
Heimlich murmeln die Wellen am Steg 
Und pochen ans Pfahlwerk, der Lichterschein 
Senkt goldene Säulen ins Wasser hinein, 
Goldne Säulen, die blinken .. und blitzen ... 
Laß uns nicht länger am Ufer sitzen, 
Mir wird so bang, wie das Wasser lockt! 
Die Schatten recken sich über den Zaun 
Zu mir herüber, mein Herzschlag stockt, 
Und meine Seele erfaßt ein Grau'n, 
Daß ich in meiner hilflosen Scheu 
Mich an dich drücke - 
                "Bist du mir treu? 
Halte mich fest, recht fest bei der Hand, 
Denn meine Seele schleicht abgewandt, 
Auf heimlichen Wegen zur Tiefe hin ... 
Sage doch, daß ich dein Liebchen bin! 
Küsse mich, daß ich den Lebenshauch 
Spüre und deine Liebe auch. - 
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 
Sieh nur, Geliebter, welch seltsam Ding 
Sich dort drüben im Dornstrauch fing - 
Ein goldner Gürtel ... 
                den trug ich einst, 
Und rothe Rosen darin. - Du weinst ...? 
Lache doch, Liebster, das Leben ist schön, 
Wir wollen noch oft beisammen gehn 
Im dunklen Garten! Wenn hinterher 
Die Nacht nur nicht gar so gespenstisch wär'... 
Du weißt nicht, wie's mir am Herzen nagt, 
Wenn ich dir endlich Gut Nacht gesagt 
Und in mein einsames Stübchen schlich! 
Mit tausend Armen umklammerts mich, 
Mit tausend Stimmen dringts auf mich ein - 
Es würgt mir die Kehle ... ich kann nicht schrein, 
Ich liege wohl bis zum Morgenschein. 
            Dann kommt der Tag 
            Und mit ihm die Ruh, 
            Der Mittag .. der Abend, 
            Und dann - kommst du! 
Schilt nicht, daß ich dir Alles gesagt, 
Was mich thörichtes Ding wohl plagt - 
Ist ja doch Alles und Alles vergessen, 
Wenn ich ein Weilchen bei dir gesessen! 
Halt' ich dein liebes Haupt im Schooß, 
Denk' ich, mir fiel ein glückselig Loos, 
Wünsche und fürchte und träume nichts mehr, 
Als deine Küsse ... 
                Wenn hinterher 
Die Nacht nur nicht gar so gespenstisch wär' ..
 
 
 
 
Anna
Ritter . 1865 - 1921 
 
 
  
 
 
 
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