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Rudolf Presber
Media
in vita . 1. Auflage 1902
Vision
Bilder sah ich frommer Heil'ger,
Die das Leben überwanden,
Und am Marterpfahl verblutend
Endlich Ruh' und Gnade fanden.
Reglos liegen sie in falt'gen
Weißen Linnen, und ihr reines
Blasses Haupt umzücken Strahlen
Eines überird'schen Scheines.
Unterm Tuche magst du ahnen
Die kasteiten magern Glieder;
Ihre Augen sind geschlossen
Durch den Vorhang müder Lider.
Aber schaust du lang hinüber
Nach dem Bild mit ernstem Fragen,
Scheinen dir die heil'gen Toten
Ihre Augen aufzuschlagen.
Und du fühlst den Blick voll Trauer
Tief im Herzen weh, als werde
Alles klar dir, was an Jammer
Je gewuchert auf der Erde;
Als verstündest du die Träume,
Die der Heil'gen Herz gedichtet,
Eh' die Fackel der Begierden
Ihre Saat im Keim vernichtet ...
Sahst bei ew'ger Lampe Scheine
Am Altar du je solch Bildnis,
Schwelgst umsonst du laute Nächte,
Birgst umsonst dich in der Wildnis;
In den Weltlärm magst du flüchten,
Magst vergraben dich in Büchern -
Du vergißt sie nie die Heil'gen
In den weißen Leichentüchern!
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Solcher Art Erinnerungen
Birgt dein Herz aus fernen Tagen.
Wehe, wenn sie still und drohend
Tote Augen aufgeschlagen!
In den wonnereichsten Stunden,
Wenn das Glück dich blind gesegnet,
Sind sie mit erloschnen Blicken
Deinem Herrscheraug' begegnet;
Wollen mit erloschnen Blicken
Dir ertrotzte Freude morden -
Und bekränzt bei Wein und Weibern
Bist du plötzlich blaß geworden.
Rudolf
Presber . 1868 - 1935
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