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Rudolf Presber
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in vita . 1. Auflage 1902
Nur Eine
Sind sie denn blind, die neid'schen Schwestern,
Und ist's kein Frevel, was du wagst?
Wird's keine ahnen, daß du gestern
Noch bebend mir im Arme lagst?
Durchschaut's denn keiner der Banausen,
Der schmeichelnd dir die Finger küßt,
Daß unter diesen Spitzenkrausen
Dein wildes Herz verloren ist?
Und hat verbrecherische Kunde
Von deinem heißen, jungen Blut
Kein Alp erzählt zur Geisterstunde
Dem Graukopf, der zur Seit' dir ruht?
Nein, keiner hat hinweggezogen
Den Schleier, der uns eint und trennt.
Die ganze Welt ist so verlogen,
Daß sie die Lüge nicht erkennt!
Nur einer einz'gen mußt' sich zeigen
Des Tändelspieles gift'ger Sinn;
Und diese einz'ge - sie wird schweigen
Als Mutter einer Sünderin!
Sie saß im Erker bei den Alten,
Die Hände schmal, die Haare weiß;
Sie hat uns fest im Aug' behalten,
Und ihre Lippen zuckten leis'.
Sie hat den Blick nur aufgefangen,
Da wir uns unbelauscht gemeint - -
Da ist sie still hinausgegangen
Und hat geweint - geweint - geweint!
Rudolf
Presber . 1868 - 1935
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