Luftfahrt

Ich las: Ein kühner Forscher flog
Weitab vom Pol, den er erstrebte.
Ein Seilchen riß - ein Kompaß trog -
Ein Wind pfiff widrig - er entschwebte ...
Und landend auf dem Gletschereis
Mit ungebrochnen graden Gliedern
Sang er dem Himmel Dank und Preis
Für solche Fahrt in frohen Liedern.
Was soll das spöttische Geschrei,
Daß er sein "wahres Ziel" gemieden?
Er flog so weit am Pol vorbei?
Schön war der Weg. Er sei zufrieden!

Und kennt nicht jeder solchen Pol,
Der ihn so mächtig angezogen?
Hier Einzelglück, dort "Menschheitswohl" -
Und jeder ist vorbeigeflogen.
Und keiner hat den Lebensast
Im eiligen Vorüberschwingen
Mit beiden Händen noch gefaßt,
Die Ernte voll ihm abzuringen.
Ein Schönstes fehlt erfülltem Traum,
Ein Letztes fehlt den besten Siegen;
Doch bleibt es herrlich: frei im Raum
Dem Ziele nah vorbeizufliegen.

Ich sandt' als Kind die Träume aus
Nach einem Schloß mit hohen Warten;
Jetzt bau' ich mir ein kleines Haus
Und wandle durch bescheidnen Garten.
Und was mir drin an Früchten reift
An meinen spät gepflanzten Bäumen,
Ein Gruß hat jeden Zweig gestreift,
Ein Hauch aus meinen Kinderträumen.
Auch in mein Gärtchen kommt der Mai,
Wenn rings die Blütenwelle brandet ...
Gewiß, gewiß: ich flog vorbei -
Und freu' mich doch, wo ich gelandet!

Und jüngst in einem Stadtbahnzug,
Da bin ich wieder ihr begegnet -
Wie einst die Augen blau und klug,
Die Locken reich mit Gold gesegnet.
Sie hat ihr lachendes Gesicht
Dem jungen Fante zugewendet - ...
Halbdunkel ... Sie erkennt mich nicht -
Wann hat das Märchen doch geendet?
Kraus, wie die Löckchen, war ihr Sinn;
Sie hat geliebt, gelacht, gelogen.
Was zuckt mein Herz ... Wer weiß - ich bin
Vielleicht dem Glück vorbeigeflogen.


  Rudolf Presber . 1868 - 1935

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