| 
 162 Bücher
 | 
 
 Rudolf Presber
 Aus
Traum und Tanz . 1. Auflage 1908
 
 
 
 
 
Diagnose Ich bin kein Arzt. Mir sitzt nicht loseDas schmale Messer im Besteck;
 Doch in der Augendiagnose
 Erkenn' ich leicht den tiefern Zweck.
 
 Des Auges Klarheit oder Trübung,
 Ein flüchtig Blinken dann und wann,
 Zeigt jedem Mann von ein'ger Übung
 Den Zustand des Patienten an.
 
 Früh war ich dieser Kunst Verehrer
 Und auch - in diesem Fall - nicht dumm.
 Es bot sich mir mein Klassenlehrer
 In Quinta schon zum Studium.
 
 Sah ich sein Auge tückisch blitzen,
 So war mir fix das eine klar,
 Daß nach der Schule nachzusitzen
 Heut wieder mal mein Schicksal war.
 
 Und wenn ich wo in Ruhepose
 Ein Aug' vom Lid geschlossen traf,
 So stellt' ich gleich die Diagnose
 Auf "Müdigkeit" und "sanften Schlaf".
 
 Bewährt ward solche Kunst aufs neue,
 Wenn emsig forschender Verstand
 In junger Augen Spiegelbläue
 Ganz klein mein eigen Bildchen fand.
 
 Wenn gar, wie Tau am Kelch der Rose,
 Ein Tränchen an der Wimper hing,
 Stellt' ich die richt'ge Diagnose
 Bestimmt, eh' ich von hinnen ging.
 
 Ich küßte sanft die lieben, feuchten
 Äuglein in ihrer holden Scham
 Und sah sie still und selig leuchten
 Wenn ich des Weges wiederkam.
 
 
 Rudolf
Presber . 1868 - 1935
 
 
 
 
 
 
 |  |