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Totentanz
162 Bücher



Alfons Petzold
Totentanz . 1. Auflage 1923



Vision

Auf einem meilenlangen Tische duftet Brot,
leuchtet Fleisch in gewaltigen Schüsseln stark und rot
zwischen Körben mit Früchten aus allen erdenklichen Ländern,
schimmert in Gläsern des Weines Purpur und Gold,
indeß die Auster von silbernen Schalen rollt.
Die Armen sitzen davor, in ihren grauen Gewändern.

Jedes Stück Erde gab seine Vergrollten her;
sie stiegen Gebirge herunter, kamen vom rauschenden Meer,
sie tragen des Südens Brand auf Stirne und Wangenflächen,
atmen eisiger Küsten Einsamkeit aus,
riechen nach dörfiger Hütte und Großstadthaus,
ihre Augen sind matt von zermürbenden Schwächen.

Rußige, grindige Hände haben die einen und
die anderen wankende Füße, straßenwund;
unbändiger Schlaf hockt vielen hinter den Stirnen.
Kinder gibt es, wie Greise, verrunzelt und alt,
Knaben blicken darein, wie Tiere voll dunkler Gewalt,
die Mädchen gleichen erkrankten Straßendirnen.

Sie waren alle vom Elend gierig beleckt,
da hatte sie plötzlich eine hämmernde Stimme geweckt:
"Wachet auf, ihr Tauben, ihr jammervoll Stummen und Blinden,
wachet auf in der Kette, im Kerker und Bettlerspital,
wandert und sammelt Euch, Volk, in Jakobs Tal,
dort werdet ihr der Armut Glorie finden!"

Und sie hoben sich auf aus Siechtum und knechtischem Tun,
schritten schweratmig, krochen ächzend, ohne zu ruhn
Tage und Nächte dahin, bis sie in Jakobs Tal standen
und, entflohen ihrem grausigen Daseinswahn,
sie einen Riesentisch zwischen zwei Bergen sahn,
darüber zehntausend silberne Lampen brannten.

Sie setzen sich auf die Zedernholzstühle zurecht,
der Bettler, die Dirne, der Arbeit büßender Knecht;
griffen mit zagenden Händen zu den goldenen Bestecken,
maßen mit schüchternen Blicken die Fülle des Weins,
während um sie in der Rundung des Hains
Bäume aufsproßten und blühende Rosenhecken.

Bald überwuchs die seligen Armen ein Wald,
eine duftende Mauer umschloß ihren Aufenthalt,
sie begannen zu lachen und vergessene Lieder zu singen.
Draußen zerfiel die Welt in nebelndes Nichts,
da vor dem Stuhl des ewigen Gottesgerichts
der Armen Qualen endlos vorübergingen.


  Alfons Petzold . 1882 - 1923






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