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Neue Gedichte
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Detlev von Liliencron
Neue Gedichte . 1. Auflage 1893



Das sterbende Schwein

    Ein sonniger, aber rauher Herbsttag. In dem holsteinischen Landstädtchen hatten die wohlhabenden sich schon längst auf den Winter vorbereitet: Kohlen und Holz, in sicherem Gewahrsam, lagen gut geschichtet in den Kellern und auf dem Boden. Die ärmeren dachten erst jetzt mit Schrecken an den anzuschaffenden Brennstoff. In dem hart an den Flecken grenzenden Dorfe war das erste Schwein geschlachtet in diesem Jahr. Triumphierend, mit dem laub- und blumenbedeckten Leichnam zogen die Bauern von Haus zu Haus unter Lachen und derben Witzen. Und Abends war "Swinsköst".
    Der alte Käthner Ehler Reimers sah den Siegeszug von der Thür seiner Kathe aus. Er machte kein neidisches oder auch nur mißvergnügtes Gesicht, aber er rauchte in schnelleren Zügen, als es sonst seine Gewohnheit war. Und dann machte er bedächtig Kehrt und ging in den kleinen Stall, der im Garten hinter seinem Hause lag. Durch die geöffnete Thür des bretternen Verschlages schien die Sonne hinein. Sie beschien eine Gruppe: ein schwer, oft hastig atmendes Schwein lag auf der rechten Seite mit ausgestreckten, zuweilen eine kleine Bewegung zeigenden Beinen. Vor ihm knieten eine junge schwarzäugige Bauernfrau mit besorgten Mienen und ein achtjährig Kind, das unablässig kläglich sprach: "Min Fieke, min Fieke, so sup doch mal". Wenn es ihm dann die Milchschüssel an die Schnauze brachte und diese zu heben suchte, stöhnte das Schwein, und der Versuch, ihm Linderung zu schaffen, mußte immer wieder aufgegeben werden. Es mußte außerordentliche Schmerzen erdulden; bei der geringsten Bewegung, die mit ihm vorgenommen wurde, stöhnte es ängstlich auf. Das Tier hatte den Milzbrand. Der Kreistierarzt hatte es aufgegeben, und der Wunderdoktor des Dorfes hatte vergeblich seine homöopathischen Mittel angewandt.
    Der Alte trat herzu, nahm seine Pfeife aus dem Munde und bog sich zu dem armen Geschöpf. Mutter und Enkelkind beobachteten ängstlich sein Gesicht. Mit dem Kopfe schüttelnd, sagte er: "nä, dat's ut; da ward nix mehr vun". Und es war, als wenn ihn eine Rührung überkäme: er hatte es großgezogen. Wenn er mit dem Futter ankam, hörte er schon das freudige Grunzen und Rumoren in der Ferne: sein Schützling merkte seine Nähe. Zuweilen hatte er es in Luft und Licht hinausgelassen, ihm freudig einen Schlag gebend auf den feisten Rücken.
    Sahen die kleinen gekniffenen Augen der Sau nicht der Reihe nach die Wohlthäter an: den Alten, die junge Frau, de lütt Bertha? oder kam es den dreien nur so vor? sie knieten mit verhaltenem Atem. Die Kleine versuchte noch einmal, die Milchschüssel unter die Schnauze zu bringen: "Min Fieke, min Fieke, du muß doch ni starben". Aber der Alte verwies es ihr. Das Röcheln wurde immer langsamer, bis es endlich ganz aufhörte. Das arme Tier hatte ausgelitten.
    Die Nachmittagssonne beleuchtete grell durch die offenstehende Thür in dem sonst dunkeln Raume die Flachsköpfe der jungen Frau Marie und lütt Berthas, die weißen Haare des Großvaters und die Borsten der verendeten Sau. Nach der vornehmen Art der Holsteiner verhielten Großvater und Tochter ihren Schmerz; nur das Kind schluchzte heftig: "min Fieke is dod".
    Das Schwein war nicht versichert gewesen. Die drei Menschen hätten, wenn es Weihnachten geschlachtet worden wäre, ein halbes Jahr davon leben können.


  Detlev von Liliencron . 1844 - 1909






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