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Detlev von Liliencron
Bunte
Beute . 1. Auflage 1903
Erscheinung
Es
war an einem jener "zehn Sommertage" im Januar. Ich kam von den
Barbecker Teichen, wo ich nach Enten gesucht hatte. Auf der Nachtkoppel, durch
die ich ging, machte ich, wie fast immer, wenn ich sie durchgehe, Halt, um mich
der weiten Aussicht zu erfreuen. Mein Hund Flambeau, den ich kurz Taps nenne,
setzte sich mit mürrisch hängenden Lippen neben mich. Das Gewehr
unterm rechten Arm haltend, vergrub ich meine Hände in die
muffenähnlichen Taschen meines Jagdrocks.
Eine große Stille lag um mich her; auch nicht der
leiseste Ton drang nah und fern an mein Ohr. Nur einmal hörte ich die drei
wie eine Klage klingenden Töne der Haubenlerche, die mir,
blödsinnigerweise, immer vorkommen wie das wehmütige, gefaßte
Lachen einer alten, unverheirateten, humorvollen Tante. Statt mich in
Jägergedanken zu vertiefen oder meine Aufmerksamkeit der Umgegend zu
schenken, tat ich allerlei unnötige Gehirnsprünge: daß es so
angenehm ist, denken und schweigen zu dürfen, dass wir in der Lebensposse,
meist als Statisten, einige Male hin- und hergeschoben werden, um dann spurlos
in einer Versenkung zu verschwinden, daß, wer in Deutschland Schiller
oder den Storch angreift, sofort gesteinigt wird, daß mir Lionardos
Reiterschlacht besser gefällt als sein Abendmahl, daß mich Kant, als
ich ihn gestern Abend wieder "vornahm", tödlich langweilte,
daß ich heute Abend bei der kleinen Line mich himmlisch unterhalten
werde, daß heute Morgen Hans Discher (Hans Petersen, der Tischler) bei
mir gewesen sei und mir gesagt habe: "Min Hermann is bi Gott".
"Min Hermann is bi Gott"; und ich verweilte
bei Hermann Petersen. Hermann Petersen war der Hochschule entlaufen und
"Dichter" geworden. Einige Male, während seines Aufenthalts bei
seinem sich schwer durchschlagenden Vater, hatte er mich auf meinem Hofe
besucht.
Um die deutsche Literatur kümmere ich mich wenig.
Das, was mir mein Buchhändler wöchentlich in einem Packet als
"Neuste Erscheinungen auf dem deutschen Büchermarkt" sendet,
wird kaum je von mir eingesehen. Fast die ganze heutige deutsche Literatur
scheint mir für artige Knaben und ganz junge Mädchen
"hergerichtet". Und Hermann Petersen ...
nun, einer jener unzähligen Poeten. Aber hatte ich nicht irgendwo gelesen,
daß er seine eigne Bahn verfolge? Doch dafür danke ich erst recht.
Soll ich mich auch noch beim Lesen "anstrengen"? Und doch, ich hatte
gewußt, daß es ihm schlecht und kümmerlich gehe, daß die
Schmach und Schande der Armut mit ihren grauenhaften Demütigungen ihn
niederdrücke. Wenn ich ihm vielleicht aus meiner Räucherkammer einige
Mettwürste und Speckseiten geschickt hätte...
Da hatte mich jemand hinten am Kragen und hielt mich
mit eiserner Faust. Und wunderbar, während der Druck wieder von mir
ließ, sah ich durch ein kleines Fenster in einen großen,
düstern Saal hinunter, der nur in den vier Ecken von je einer in einem
schräg stehenden Halter gefaßten Fackel erhellt war. In der Mitte
stand ein mächtiger Tisch, wie ihn die Operationszimmer zeigen. Auf diesem
lag Hermann Petersen ausgestreckt. Eine himmelblaue Decke überzog ihn bis
an die Achseln. Die nackten Arme breiteten sich wie am Kreuz aus. Hals, Hand-
und Fußgelenke waren mit eisernen Ringen an den Tisch gefesselt. Zwischen
den unnatürlich weit gespreizten Fingern saßen hölzerne
Pflöcke. Es war totenstill; nur zuweilen, in bestimmten Abständen,
klang irgendwo aus dem Dunkel eine Stimme: "Anziehen". Dann
hörte ich die Schrauben und die Fingergelenke knacken. Hermann Petersen
wurde gefoltert. Der Gepeinigte hielt die Augen nach oben gerichtet. Keine
Miene bewegte sich im fahlblassen Gesicht. Die Lippen preßten sich fest
aufeinander. Einmal erschien ein Herr in der kleidsamen Uniform der
Gerichtsvollzieher und trat zu ihm: "Nun, nun, das ist nicht so
gefährlich, das kommt in den besten Häusern vor." Dann
verschwand dieser Herr wieder. Plötzlich stand, lichtverbreitend, an des
Dulders Fußende eine menschengroße Engelsgestalt mit tiefschwarzen
langen Flügeln. Diese tiefschwarzen Flügel an dem weißen,
faltigen Hemde entzückten mich.
Der Engel ging an das Kopfende und bog sich über
das Haupt des Gequälten und brachte ihm seine Lippen. Dann sprach er klar
und langsam: "Du warst ein deutscher Dichter und arm. Ich habe dir den
Fluch von der Stirn geküßt. Sei erlöst von deiner Qual und von
deinem Volke". Und Hermann Petersen lehnte den Kopf an des Engels Brust
und verschied.
Ich fühlte in der linken Kniekehle ein Reiben. Es
war Taps, der mir zu verstehen geben wollte, daß es höchst
überflüssig sei, noch länger hier auf dem Felde zu verweilen.
Und wir wanderten nach Hause. Dort fand ich mein Buchhändlerpacket mit den
"Neusten Erscheinungen auf dem deutschen Büchermarkt".
Detlev
von Liliencron . 1844 - 1909
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