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Gedichte, Lyrik, Poesie

Worte in Versen IV
162 Bücher



Karl Kraus
Worte in Versen IV . 1. Auflage 1919



Inschriften

Silvester 1917

Dies alte Jahr versank so wehrlos
und aus der Mördergrube steht ein neues auf.
Sind denn die lieben Zeiten ehrlos?
Hemmt keine Scham der Jahre Lauf?

Ein frommes Ohr horcht in die Weiten:
nur manchmal bebt es in der Erde Raum.
Doch unerschüttert gehn die Zeiten
vorüber diesem Sündentraum.

Sie laufen fort mit den Kalendern,
im neuen Jahr das alte Werk zu fördern.
Und nehmen Abschied von der Menschheit Mördern
und sagen Prosit zu der Schöpfung Schändern.




Friedensbereitschaft

Herbeizuführen den Friedenstag,
schlug er mit dem Schwert
auf den Verhandlungstisch,
denn so 'n Vertrag
ist ja doch nur ein Wisch
und nicht der Rede wert,
und kriegt man ihn nicht wie man mag,
so haut man den Verhandlungstisch
um die Erd',
die einem doch ohne Frag'
gehört!




Czernins Verzicht

Wir woll'n vom Feinde keinen Fußbreit haben,
der Lohn des Friedens wird uns reichlich lohnen,
und selbstlos gehn wir in den Schützengraben
für bundesbrüderliche Annexionen.




Affaire Friedjung

Lang' hat in Nibelungenstaaten
man durchgehalten und sich treu gefrettet.
Nun tut man gütlich sich am Braten
der Gans, die jüngst das Kapitol gerettet.




Am Scheideweg

Der Freund hat für zehn Tage Mehl euch verheißen,
der Feind euch fürs Leben die Freiheit gewährt.
Ich rat' euch, nachdem ihr das Mehl verzehrt,
getrost in die andere Speise zu beißen.




Sprichwörter

Wer einstmals Fülle mochte mehren,
dem sagte man, es möcht' umsonst geschehn,
und weise diesem Drang zu wehren,
wollt' man ihn durch das Wort belehren:
er trüge Eulen nach Athen.

Die jetzt den Mangel noch vermindern
mit sieghaft mitleidloser Miene,
die soll man rasch entschlossen hindern.
Denn solch Beginnen bringt den Landeskindern
Getreide aus der Ukraine.




Vorsicht!

Die feindlichen Tröpfe
zerbrachen sich die Köpfe,
um Lügen auszuhecken.
Wir wissen, was wahr ist,
die größere Gefahr ist,
daß sie unsre Wahrheiten entdecken.




Wien im Krieg

Im allergemütlichsten Frieden
zur Not zusammen ging's.
Der Wachmann am Weg auf die Wieden
der mahnte und bat: Bitte links!

Zu unserem Seelenheile
brauchten wir keine Disziplin.
Wir waren im Gegenteile
die Bewohner der Hauptstadt Wien.

Im Schlendern und Spazieren
haben wir vom Weg uns entfernt.
Nun mußten wir marschieren,
noch ehe wir gehen gelernt.




Einem Grüßer

Du höflicher, du wohlerzogner Mann,
der mir den tiefsten aller Grüße gönnte.
Doch sagt er nicht, daß ich Gedichte schreiben kann,
nur, daß ich einen Angriff schreiben könnte.

So guter Wink erduldet kein Versäumnis,
ich tu's, schon tu' ich's, du kulanter Tropf.
Du lüftest mit dem Hute dein Geheimnis
und sichtbar wird die Butter auf dem Kopf.




Verschiedene Grüßer

Die einen grüßen mich, wenn sie allein sind,
doch schämen sie sich meiner vor den andern.
Die andern grüßen mich, wenn sie zu zwein sind,
um grußlos einzelweis vorbeizuwandern.

Die grüß' ich nicht zurück, wenn sie zu zwein sind,
weil ich mich dieses, jenes, meiner schäme,
und andre grüß' ich nicht, wenn sie allein sind,
weil ich von solchem Umgang Umgang nehme.




Reiseabenteuer

Auf einer Eisenbahn,
wo man sich nicht gut gegen Ansprach schützen kann,
hat's einer einst mir angetan.
Ich sagte: Herr, Sie sprechen mich nicht an,
obzwar Sie's tun. Und überhaupt -
Er sagte: Sind Sie nicht der Karl Kraus?
Ich sagte: Nein! und stieg gleich aus.
Ich glaub', der Esel hat es doch geglaubt.




Der Feuilletonist

Wie macht er das? Wie kommt er zu dem Glanze,
der schimmernd seine Sprache schmückt und ziert?
Aus Nichts entsteht zwar Nichts, jedoch das Ganze
ist gut geglättet und so schön geschmiert.




Naturalismus

Als anno neunzig war die Bühnenluft verstäubt,
da hat die Polizei es ausdrücklich erlaubt,
aufs Podium zu spucken.
Da fühlte die Natur sich ganz und gar erfrischt,
so hat man in Berlin mal tüchtig auf gemischt,
wer wollte da noch mucken.

Und daß am Ende nicht der alte Bühnenton
entarten möchte in der trägen Tradition
und in der Zucht verlottern,
so lernten alle, die zu sprechen nicht erlernt
und welche von Natur schon vom Beruf entfernt,
die rechte Kunst, zu stottern.

Das rülpste sich nun aus wie vor 'nem Schweinetrog,
allein verboten war allein der Monolog
in allen Dialekten.
Beiseite spucken statt beiseite sprechen schien
Errungenschaft zu sein, als damals in Berlin
sie die Natur entdeckten.




Kastans Panoptikum

Hereinspaziert, ihr Affen, sehet hier,
was die euch Fortgeschrittnen leisten!
Durch übermenschliches Erdreisten
ward dieser Mensch zum Untertier.

Ihr Ur- und Hinterlandsgelichter,
beneidet diesen um sein Wissen.
Er schreitet fort in Finsternissen,
fährt auf der Hochbahn, wohnt im Trichter.

Ihr allzu primitiven Ahnen,
ihr lebtet lange nicht so hastig.
Stumm staunet ihr vor der Gymnastik
auf dieses Untergrundes Bahnen.

Der Neid auf solche Tiefe, Höhe
soll euch nicht allzu selbstlos machen.
Hinausspaziert mit euern sieben Sachen,
der Enkel fängt euch schon die Flöhe!


  Karl Kraus . 1874 - 1936






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