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Das Leben lebt
162 Bücher



Gustav Falke
Das Leben lebt . 1. Auflage 1916



Sechsunddreißig sollen wandern

Durch die Straßen geht die Pest,
reich und arm muß elend sterben,
keine Mauern, noch so fest,
wehren dem Verderben;
nur im Kloster sind sie noch,
Mönch und Mönch, beisammen,
schützen die Gebete doch
und geweihte Räucherflammen.

Aber einmal in der Nacht,
als der Bruder Koch, der Frommen
Frömmster, in der Kammer wacht,
wunderlich beklommen,
hört er unter sich im Saal
rücken wie von Stühlen,
Tellerklappern wie beim Mahl
und verworrenes Stimmenwühlen.

Und er horcht, das Ohr geneigt.
Alle guten Geister loben
Gott, den Herrn! Deutlich steigt
durch die Dielen es nach oben:
"Koch, richt' für die Brüder an,
die da wandern sollen."
Und die eigne Stimme dann
fragt, wieviel denn wandern wollen.

"Sechsunddreißig." Also klingt
kurz und dumpf die Antwort wieder.
Namenloser Schrecken springt
ihm durch alle Glieder.
Ist's ein Spuk? Äfft ein Traum
die verschlafene Seele?
"Heilige Mutter Gottes!" Kaum
will's aus der gepreßten Kehle.

Doch er faßt sich. Einen Riß
weiß er in des Saales Mauer.
In des Ganges Finsternis
steht er auf der Lauer,
und er sieht, graunerfüllt,
durch die schmale Ritze
jeden Bruder, weißverhüllt,
bleich und still auf seinem Sitze.

Jedem schließt ein Leichentuch
faltig sich um Rumpf und Lende,
und der Abt vor seinem Buch
hebt die weißen Hände,
hebt ein weißes Angesicht
wie zum Segnen. Leise
weht und flackt ein kleines Licht
in dem geisterhaften Kreise.

Der verstörte Lauscher schleicht
heiß zurück in seine Zelle,
schließt er auch die Augen, weicht
doch der Spuk nicht von der Stelle.
Endlich, als der Morgen graut,
will den Bann er brechen,
künden, was er nachts geschaut,
doch umsonst, er kann nicht sprechen.

Erst am dritten Tage schenkt
plötzlich sich das Wort ihm wieder:
Sechsunddreißig Brüder senkt
in die Gruft man nieder,
und erzählen kann er da,
später Todesbote,
wo er sie so sitzen sah:
Tote, nichts als Tote.


  Gustav Falke . 1853 - 1916






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